Naming names – Elia Kazan, HUAC und Hollywood

Kurzbeschreibung: Als Verräter geächtet und mit „Oscars“ überhäuft: Wie Hollywood eines seiner Wunderkinder beinahe verstieß, über die enorme Schaffenskraft künstlerischer Wut und einige sehr kalte Wochen in New Jersey.

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Im März 1999 verlieh Hollywood seinem größten Verräter einen „Oscar“. So zumindest sahen es nicht wenige Zeitgenossen. Die dazugehörige Geschichte taugt indes selbst zum filmreifen Plot und ist zugleich ein Beweis, dass das Showgeschäft eben manchmal die spannendsten, schönsten oder dramatischsten Storys über sich selbst schreibt, wie bei All About Eve“ (1950), Sunset Blvd.“ (1950) (Review auf Filmkuratorium.de lesen) oder den A Star Is Born (Review auf Filmkuratorium.de lesen)-Variationen. Die Vergabe des „Honorary Award“ der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, auch als „Ehren-Oscar“ verschrien – oftmals vergeben als Gnadengeschenk an „Oscar“-verdächtige Persönlichkeiten, welche jedoch die goldene Statuette trotz ihres künstlerischen Genies nie für einen Film erhalten hatten –, sorgte damals, an der Schwelle zum neuen Millennium, für reichlich Furore. Denn der schon im Vorfeld bekanntgegebene Preisträger hatte zu seinen aktiven Zeiten bereits zwei gewissermaßen natürliche „Oscars“ gewonnen, war also nicht gerade eines Gnadengeschenks bedürftig, doch vor allem hieß er Elia Kazan: einer der größten Film- und Theaterregisseure seit Menschengedenken – und für viele eben: ein Verräter.

In Videoaufzeichnungen lässt sich das Schauspiel nachverfolgen: wie sich das Auditorium der „Oscar“-Verleihung spaltet in jene, die dem von Robert De Niro und Martin Scorsese auf die Bühne gerufenen Kazan mit Standing Ovations applaudieren (u.a. Warren Beatty, Cathy Bates, Meryl Streep), und solche, die wie Ed Harris, Amy Madigan oder Nick Nolte mit beklommener Miene sitzen bleiben (freilich auch solche, die wie Steven Spielberg sitzen bleiben, aber klatschen). Draußen, vor der Veranstaltungshalle, dem „Dorothy Chandler Pavilion“, hatten sich zwischenzeitlich 500 protestierende Kazan-Gegner eingefunden, die den Preisträger mit Slogans piesackten; ihnen gegenüber standen rund sechzig Kazan-Anhänger, die den Regisseur als Helden feierten und von den „Hollywood communists“ eine Entschuldigung einforderten.

I should have long before alienated them“ – Verrat am Broadway

Kazan, 1909 in Istanbul geboren zu einer Zeit, als die Bosporus-Metropole noch offiziell Konstantinopel hieß, war im Alter von vier Jahren aus einem der hintersten Winkel der alten Welt in die verheißungsvollen USA gekommen. Und Kazan ergriff die unbegrenzten Möglichkeiten mit beiden Händen: Als Theaterregisseur und Angehöriger des revolutionären Group Theatre mischte er mit Mitte zwanzig die New Yorker Bühnenwelt auf. Die Autoren, deren Stücke er inszenierte, waren die ganz Großen ihrer Zeit: Thornton Wilder, Arthur Miller, Tennessee Williams. In den späten Vierzigern war er Mitbegründer des bis heute berühmten Actors Studio, aus dem u.a. Ellen Burstyn, Harvey Keitel und Al Pacino hervorgingen. Kazan machte – am Broadway und in Hollywood – mit A Streetcar Named Desire“ (1951) (Review auf Filmkuratorium.de lesen) Marlon Brando zum Weltstar und zu einem der einflussreichsten Schauspieler des 20. Jahrhunderts. Er drehte unsterbliche Klassiker wie On the Waterfront“ (1954) (Review auf Filmkuratorium.de lesen) und „East of Eden“ (1955), war Mentor nicht nur für Brando, sondern auch James Dean und Warren Beatty. Kazan erreichte als Regisseur alles, was man nur erreichen konnte – und noch viel mehr. Aber dieses kreative Wunderkind brachte sich auf seinem schier unaufhaltsamen Aufstieg selbst in Verruf.

In den frühen 1950er Jahren steuerte die Kommunistenhatz auf einen neuen Höhepunkt zu, über den USA lag die düstere Atmosphäre der McCarthy-Ära. Elia Kazan hatte in den Dreißigern, während der wirtschaftlich harten Jahre der Great Depression, der 1919 in den Vereinigten Staaten gegründeten Communist Party angehört, war aber nach zwei Jahren wieder ausgetreten. Nun bestellte ihn das House Un-American Activities Committee (HUAC) ein und wollte vor allem eines: Namen. Kazan gestand seine Mitgliedschaft bei den Kommunisten ein, aber Namen anderer Mitglieder aus seinem damaligen Umfeld im New Yorker Group Theatre wollte er nicht herausgeben. Doch die Dinge nahmen bereits ihren Lauf.

Jemand aus dem Komitee leakte die angeblich vertrauliche Unterredung von Mitte Januar 1952, die Kazan in Washington hinter verschlossenen Türen mit dem Komitee geführt hatte und bei der er, wie gesagt, zwar seine einstige Parteimitgliedschaft einräumte, die Benennung von Parteifreunden jedoch verweigerte, an die Presse. Kazans Name stand nun öffentlich in Verbindung mit der Kommunistischen Partei, ein Brandmahl deutete sich an. „I […] wanted to lie down in tall grass and let the world turn without me.“[1]

Kazan sah sich unter akuten Druck gesetzt, rechnete im Falle einer Aussageverweigerung fest mit dem Ende seiner Karriere, die doch für ihn alles bedeutete. „I believed my days in that town and in that industry were over.[2] Ausgerechnet jetzt, nur ein Jahr nach seinem Megaerfolg „A Streetcar Named Desire“ (1951), befand er sich in einer heiklen Lage, denn sein Studio – Twentieth Century Fox – fürchtete wegen Kazans HUAC-Vorladung um den Erfolg des neuen Kazan-Brando-Films Viva Zapata! (Review auf Filmkuratorium.de lesen), der 1952 anlaufen sollte. Behielte er seine Haltung bei, würde die Fox ihn fallenlassen, so die leise Drohung. Und auch das Gefänfnis schien ihm eine mögliche Konsequenz: Drehbuchautoren, so überlegte Kazan, könnten in der Gefängniszelle ja weiter schreiben; aber ein Regisseur, der auf Millionenbudgets angewiesen war? Er, der ja wusste und erlebt hatte, dass er mit seinen Fähigkeiten große Erfolge, Außergewöhnliches, zu bewerkstelligen vermochte? Sollte er all das aufgeben für eine Sache, die er nicht einmal mehr befürwortete, geschweige denn für sie glühte? „It seemed insane.[3] Der Status als Filmemacher bedeutete den Löwenanteil seiner Identität. Diese Gedanken beschäftigten Kazan jedenfalls tagelang, während er sich den Kopf ob seiner bald nicht mehr aufschiebbaren Entscheidung zermaterte.

Kazan suchte nach Ablenkung, nahm ein paar Drinks, schlief mit der Monroe, aber seine innere Unruhe verließ ihn nicht. Vielleicht war es eine gute Portion selektiver Wahrnehmung, jedenfalls vernahm Kazan nun sehr viele Stimmen, die ihm zurieten, doch vor dem Komitee auszusagen, statt seine Karriere wegzuwerfen. Tatsächlich sprach Kazan mit zwei Menschen, die er benennen würde – sie gaben ihm ihren Segen. Und die beiden Studiobosse von Twentieth Century Fox, Spyros Skouras und Darryl F. Zanuck, favorisierten die Aussage, um die lästige Angelegenheit endlich vom Tisch zu haben. „Name the names, for chrissake. Who the hell are you going to jail for?[4], soll Zanuck – laut Kazan – gesagt haben. Und hatten ihn seine einstigen Kurzzeitgenossen mit ihrem Dogmatismus und ihrer Überwachung, der ganzen heuchlerischen Parteidisziplin, die ihn – einen kreativen Geist – zur unwürdigen Selbstzensur verleitet hatte, nicht eigentlich ziemlich mies behandelt? Und nicht zuletzt: „I knew damned well they weren’t good for the country.“[5]

In jenen Tagen gelangte Kazan anscheinend zu einem Bewusstseinswandel, zu Erkenntnissen, die ihm selbst eine akzeptable Legitimation für eine Aussage vor dem Komitee boten. Die Partei, so bilanzierte er immer wieder, habe ja letztlich versucht, freies Denken zu unterdrücken; als Mitglied habe man sich einem vorgegebenen Kurs fügen müssen; gegenüber seinen Genossen habe man keine abweichenden Meinungen vertreten dürfen, sondern sich immer dem gerade gültigen Mainstream anpassen müssen, um nicht als Outsider stigmatisiert zu werden. Die Ziele, die Methoden, die Kazans Ansicht nach gehässige Intoleranz der kommunistischen Konspiration in den USA riefen jetzt die Skepsis, bald auch Wut des Regisseurs hervor. Er fokussierte nun die schlechten Seiten der ganzen Angelegenheit: die Bigotterie seiner Gefährten, der Kampf gegen ein System, das er doch eigentlich unterstützte, ja das ihm seine ganze Karriere erst ermöglicht hatte – und all das im Namen einer verbrecherischen Diktatur wie der des Stalinismus, die amerikanische Kommunisten mit ihrem idealistischen Aktivismus ja letztlich deckten. Mit einem Mal war Kazan im Furor seines inneren Rationalisierungsprozesses regelrecht verärgert über das Verhalten seiner früheren Genossen: „I should have long before alienated them.“[6]

In seiner Autobiografie „A Life“ (1988) schildert Kazan seine Gedankengänge vor der Aussage als einen reinigenden Akt der Selbstfindung, den angeblichen Verrat seiner einstigen Mitstreiter als wahrhaftige Tat, als patriotischen Dienst am amerikanischen Allgemeinwohl, und betreibt dabei ein gehöriges Maß an victim blaming. Kazan sagte also aus, naming names, das Komitee gab den Inhalt sofort an die Presse weiter und mit einem Schlag war Kazan, im April 1952, bei vielen Menschen geächtet – trotz oder gerade wegen einer Verteidigungsrede, geschrieben von seiner Frau Molly unter seinem Namen, die Kazan in der New York Times annoncierte. Denn hernach war Kazan nicht mehr nur der Ex-Kommunist, der zur Rettung der eigenen Haut zähneknirschend eine Reihe von Namen preisgegeben hatte; vielmehr hatte er sich mit dem Text in aller Öffentlichkeit dieser Tat auch noch gerühmt, im Dienste einer demokratischen Wahrheitsfindung, wie er der Leserschaft suggerierte („Liberals must speak out.“[7]).

„A dramatic gold mine“ – Rettung an der Waterfront

Seine Sekretärin kündigte, Bekannte ignorierten ihn bei Begegnungen auf der Straße oder weigerten sich im Theater, in derselben Sitzreihe wie Kazan Platz zu nehmen, „informer“ und „rat“ waren die stigmatisierenden Labels, die von nun an auf seinem Namen lasteten. Der Bannstrahl, der ihn traf, verfestigte freilich Kazans Überzeugung, das Richtige getan zu haben. „I’d always told the precise truth while being attacked by manufactured falsehood.“[8] Dass er allerdings Zeit seines Lebens nicht ganz im Reinen mit seiner Entscheidung des Frühjahrs 1952 war, das schlägt einem bei der Lektüre von „A Life“ aus den vielen Zeilen, in denen Kazan die Geschehnisse schildert, förmlich entgegen.

Wie bei allen biografischen Beurteilungen stellt sich auch hier die Frage nach den Alternativen, die sich der handelnden Person in der damaligen Situation boten; und die Frage nach den Konsequenzen, die sie (vermutlich) bedeutet hätten. Für Kazan – einen Regisseur, der sowohl im Osten der USA am Broadway als auch im Westen in Hollywood zu den Größten seiner Zunft gehörte – war das in der Tat eine geradezu existenzielle Frage. Einige Filmschaffende bezahlten ihr Schweigen ja in der Tat mit ihrer Karriere, indem ihre Namen auf die berüchtigte „Hollywood blacklist“ gerieten. Aber umgekehrt konnte Kazan annehmen, dass die von ihm genannten Namen ihrerseits auf ebendieser schwarzen Liste landen würden. So wie bspw. der von Phoebe Brand, einer Theateraktrice, deren Schauspielkarriere nach Kazans Aussage zu Ende war und die deshalb dem Regisseur nie verzieh.

Kazan nutzte also seine Prominenz und sein erzählerisches Talent, um seine Version der Vorgänge im Jahr 1952 der Weltöffentlichkeit mitzuteilen. Derlei Selbstzeugnisse waren schon immer eine geschickte Methode, die öffentliche Meinung im eigenen Sinne zu beeinflussen, von Caesar und Augustus bis Adenauer und Kohl. Kazans Sicht der Dinge ist zumindest in sich plausibel: Die Annahme, dass die Namen ohnehin ans Licht kämen, lag nahe; auch die, dass mindestens einige seiner zu denunzierenden Genossen ihn in gleicher Situation ebenfalls benennen würden. Seine Zukunft in Hollywood, in der Kultur- und Unterhaltungsbranche insgesamt, war beträchtlich gefährdet, mindestens ungewiss; sich der Kooperation zu verweigern, bedrohte seine gesamte Karriere, die wiederum für ihn eine nachgerade lebenswichtige Bedeutung besaß. Die Studiobosse und Bekannten, die er konsultierte, legten ihm überwiegend, mit wechselnder Bestimmtheit, die Aussage nahe. Selbst Freunde, deren Namen er vor dem Komitee benennen würde, rieten ihm nicht davon ab. Und nicht zuletzt lehnte er die Ideologie und Mentalität der Sache, die er mit einer Nichtaussage schützen würde, mittlerweile zutiefst ab. Auch ist schwer zu sagen, wie Kazan beurteilt worden wäre, hätte er bereits gleich bei seinem ersten Termin, im Januar 1952, inklusive Namensnennungen ausgesagt, statt Monate später seine Festlegung, keine Namen zu nennen, zu widerrufen; und hätte er von der Veröffentlichung seiner selbstgerechten Apologie in der New York Times abgesehen.

Was nun geschah, übersteigt selbst das Vorstellungsvermögen der kühnsten Drehbuchschreiber. Kazan verspürte einen täglich zunehmenden Rechtfertigungsdrang, eine Mischung aus selbstbewusster Verteidigung und künstlerischer Revanche, den irgendwie erleichternden Entschluss, Kritikern fortan offensiv entgegenzutreten. Allen Zweiflern und Gegnern wollte er es mit neuen, überwältigenden Filmen heimzahlen. Kazan traf sich mit Budd Schulberg, einem fast gleichaltrigen Drehbuchautor, der ebenfalls vor dem HUAC ausgesagt und Namen verraten hatte. Kazan und Schulberg erkannten sich sofort als Brüder im Geiste und verabredeten ein gemeinsames Filmprojekt, dessen Thema um Wahrheit im Angesicht der Justiz – ihr eigenes Sujet also – kreisen sollte. Und wie der Zufall es wollte, hatte Schulberg die passende Geschichte schon parat: „Crime on the Waterfront“, eine 1949 mit dem „Pulitzer-Preis“ ausgezeichnete Enthüllungsserie des investigativen Journalisten Malcolm Johnson, die das organisierte Verbrechen im New Yorker Hafenmilieu beschrieb.

Dort, an den Anlegestellen der Frachtschiffe, warteten jeden Tag aufs Neue armselige Malocher, die zu schlechten Bedingungen stets für lediglich einen Vorgang angeheuert wurden; wer sich dagegen auflehnte, wurde durch Schläger oder fingierte Arbeitsunfälle zum Schweigen gebracht. Unerhörte Missstände waren das, die Johnson ans Licht geholt hatte – und die nun Kazan und Schulberg in aller Welt auf den Kinoleinwänden zeigen wollten.

Während Kazan in Bayern „Man on a Tightrope“ drehte, vertiefte sich Schulberg noch energischer in das Soziotop der longshoremen, als dies je irgendein Method Actor getan hätte. Er freundete sich so eng mit den wortkargen Hafenarbeitern an, dass sie ihm alles verrieten, was er für ein spektakuläres Drehbuch wissen wollte. „He’d uncovered a dramatic gold mine[9], jubelte Kazan nach seiner Rückkehr aus Deutschland. Aber wie in einem guten Hollywooddrama dürfen die Helden der Geschichte nicht allzu schnell zu ihrem Erfolg kommen; vor dem Happy End müssen erst noch Gefahren und Fallen bewältigt werden. Und so war es auch bei Schulberg/Kazan.

Denn Kazan war zwischenzeitlich abgestürzt: Bei vielen war er verhasst, „Viva Zapata!“ (1952) hatte nicht so viel Geld eingespielt, dass Kazan bei der Fox seinen Nimbus bewahrt hätte, und „Man on a Tightrope“ wurde vom Studio schon vor seiner Veröffentlichung 1953 als Flop betrachtet. „The testimony crisis“, so Kazan im Rückblick, „had made me a contractual cripple.“[10] Gegenüber Darryl F. Zanuck, dem allmachtsfantasierenden Produktionsleiter von Twentieth Century Fox, musste Kazan klein beigeben, als starke Änderungen an „Man on a Tightrope“ vorgenommen werden sollten, die Kazan gehörig gegen den Strich gingen und die er in einer anderen Situation niemals geduldet hätte. An diesem Beispiel lässt sich geradezu mustergültig die Flüchtigkeit von Erfolg unter der kalifornischen Sonne ablesen: Nach A Streetcar Named Desire (Review auf Filmkuratorium.de lesen) war Kazan einer der mächtigsten Regisseure der Welt, nur zwei Jahre später lag er am Boden.

„My anger kept me warm“ – die Revanche des Elia Kazan

Aber Kazan hatte ja noch Schulberg. Und das „Waterfront“-Projekt. „The hell with Darryl [Zanuck] and Fox and my controversial political image“, auf nach New York, dort würde sich schon alles richten lassen: „A new day was coming.[11] In New York freilich ging Kazans Pechsträhne weiter, als er ein ohnehin mittelmäßiges Tennessee-Williams-Stück, „Camino Real“, nach eigenem Empfinden in den Sand setzte und damit auch den Broadway als seine letzte künstlerische Zufluchtsstätte entweihte. Dafür aber hatte Schulberg ein Geschenk, das Kazan alles vergessen ließ.

In Hoboken erfuhren die beiden von einem Mann namens Tony Mike de Vincenzo – einem Paria, wie Kazan; einem Mann, der sich gegen ungerechte Behandlung zur Wehr setzte (wie nach eigener Ansicht Kazan), indem er, naming names, ehemalige Verbündete – Schuldige – an die Behörden verriet (wie Kazan); und der dann unter den Konsequenzen seiner Tat zu leiden hatte (abermals: wie Kazan). Hätten sich Kazan und Schulberg diesen Tony Mike ausgedacht, es hätte ihnen niemand abgenommen. Aber Tony Mike gab es wirklich und Kazan erkannte in dem Hafenarbeiter natürlich sofort sich selbst. Doch die Hollywooddramaturgie schlug noch einmal zu.

Schulberg und Kazan hatten fantastischen Stoff für ein großartiges Drehbuch, sie waren bis in die letzte Pore ihres Körpers motiviert und sie hatten diese famose Figur des Tony Mike. Aber kein Studio wollte den Film finanzieren, keiner erkannte das Potenzial, allen war Kazan zu heikel, ein Kassengift wie einst Katharine Hepburn, ehe sie noch drei „Oscars“ gewann. Nur einer witterte den Erfolg, der er in der Sache steckte.

Nachdem sie alle Adressen abgeklappert hatten und völlig aussichtslos mit ihrem Projekt dastanden, in welchem sie einen künftigen Hit zu erahnen meinten, torkelten sie eines Abends, kurz vor ihrer verdrossenen Abreise, im „Beverly Hills Hotel“, einem von L.A.s verwunschenen Orten, in die benachbarte Suite von Sam Spiegel. Spiegel war freier Produzent, wie Kazan ein Immigrant, und nannte sich dieser Tage S.P. Eagle. Er ließ sich die Story beim Katerfrühstück erzählen und sagte zu. Spiegel trieb das Geld für die Produktion auf, und er holte Brando – Kazans Lieblingsschauspieler – in das Projekt, obwohl Brando nach der HUAC-Affäre eigentlich nicht mehr mit Kazan, seinem Lieblingsregisseur, zusammenarbeiten wollte. Die Gage und die Nähe des Drehortes zu Brandos Psychiater hatten den Star umgestimmt. Dieser Film sollte Kazans künstlerische Antwort auf die negativen Reaktionen sein, die er seit seiner Aussage erfahren hatte. Entsprechend aggressiv war sein Arbeitselan in diesem Projekt: „[…] I was fighting for my professional life“, schrieb er über seinen Gemütszustand, „my anger kept me warm“, „that rage carried me over insurmountable obstacles“ – ein „once-in-a-lifetime anger“.[12]

Und was für ein Film das wurde: On the Waterfront(Review auf Filmkuratorium.de lesen) erhielt blendende Kritiken, war ein Box-Office-Hit und strich haufenweise „Oscars“ ein – bester Film (für Sam Spiegel), beste Hauptrolle (Marlon Brando), beste weibliche Nebenrolle (Eva Marie Saint in ihrem Kinodebüt), beste Schwarz-Weiß-Kamera (Boris Kaufman), bester Schnitt (Gene Milford), bestes Szenenbild in einem Schwarz-Weiß-Film (Richard Day), bestes Drehbuch (Budd Schulberg). Und als habe sich Hollywood sein eigenes Märchen erschaffen wollen: der Regie-„Oscar“ für Elia Kazan.

Vor „On the Waterfront“ hatte Kazan vor dem verfrühten Karriere-Aus gestanden, hatte sich bereits mit dem Gedanken an die Zeit nach seinem zwar ansehnlich erfolgreichen, aber eben noch lange nicht erschöpften Regisseursdasein gequält. Statt einer der bedeutendsten und einflussreichsten Regisseure der Weltgeschichte zu werden, hätte Kazan bis 1954 auch einfach nur ein guter Regisseur der frühen Fünfziger bleiben können, der tragisch, aber nicht unverschuldet am moralischen Versagen seinerselbst scheiterte.

Nach „On the Waterfront“ war Kazan – zumindest eine Zeit lang – der ultimative, unbestrittene Star unter Hollywoods Regisseuren; Produzenten wie Zanuck standen urplötzlich als Verlierer und Idioten da, weil sie Kazan und Schulberg hatten ziehen lassen. Mit dem „Waterfront“-Projekt hatte Kazan nicht nur seine Karriere gerettet, sondern sich gleich noch an die Spitze seiner Zunft gesetzt. Denn damals wie heute galt das unumstößliche Gesetz, dass „Oscars“ und die Kinokasse den Erfolgreichen unbestreitbare Macht verliehen – jedenfalls solange keine schwerwiegenden Verfehlungen dies konterkarierten.

Kazan hatte politisch umstrittene Weggefährten an den Staat verraten und damals, 1952, keinerlei kommerzielle Erfolge vorzuweisen gehabt, welche die Studiomanager darüber hätten hinwegsehen lassen. Aber jetzt, mit einem gigantischen Erfolg im Rücken, hatte sich Kazan bei den Spitzen der großen Studios rehabilitiert. (Kazan: „Money is magic; very simple.[13]) Einer der Ersten, die sich bei ihm meldeten, war Darryl F. Zanuck, der nun derjenige war, der „On the Waterfront“ abgelehnt hatte. Kazan war so begehrt, dass ihm sogar das größte aller Privilegien angetragen wurde: der final cut.

Kazan, der in seinen eigenen Augen ewige Outsider, hatte es allen gezeigt, hatte seine Klasse bewiesen und das Maximum aus dem „Waterfront“-Projekt herausgeholt. Natürlich mit Hilfe von Spiegel, Schulberg, auch Brando, ohne die all das vermutlich nicht möglich gewesen wäre. Aber wen kümmerten solche Details? Aber das war noch nicht alles. Kazan hatte seine Revanche an der kritischen Öffentlichkeit niet- und nagelfest machen wollen – und sein Ansinnen damit auf die Spitze getrieben. In der packenden Schlusssequenz, in der Marlon Brandos Hafenarbeiter Terry Malloy – die Leinwandversion von Tony Mike – von den breitschultrigen Mafiosi zu Brei geschlagen wird, sollte eine direkte Parallele zu Kazans Fall ziehen, ja der ganze Film eine Parabel von Kazans zum ehrenwerten Wahrheitskampf stilisierter HUAC-Aussage sein. Terry Malloys Aufschrei: „I’m glad what I done – ya hear that?“, war zugleich Elia Kazans Botschaft an all seine Kritiker und Gegner – denn Malloy wie Kazan bereuten nichts. Und beide, so die Botschaft, verdienten sich den Respekt der Opfer einer dubiosen Macht, indem sie ordentlich Prügel bezogen, um für ihre Meinung und Wahrhaftigkeit gegen noch so drastischen Widerstand einzustehen – Kazan und Malloy: Märtyrer der Wahrheit, der eine gegen die körperliche Ausbeutung der Mafia, der andere gegen die mentale und ideologische der Kommunisten. Das machte Kazans Kritiker freilich nur noch wütender, noch fassungsloser. Kazan selbst gab nach Jahrzehnten zu: „On the Waterfront was my own story; every day I worked on that film, I was telling the world where I stood and my critics to go and fuck themselves.“[14] Kazan war zufrieden, auch wenn er seinen Zenit damit erreicht hatte, das final cut-Privileg nach folgenden mäßigen Bilanzen an den Kinokassen bald wieder verlor und bei vielen auf ewig als rat galt.

Als er den „Honorary Award“ entgegennahm und auf der großen Bühne dem zwiegespaltenen Publikum gegenüberstand, erwähnte er die ganze Angelegenheit mit keinem Wort. Stattdessen legte er einen Auftritt hin, der unter anderen Vorzeichen als einer der bewegendsten, herzergreifenden Momente in die Academy-Historie eingegangen wäre, von niemandem bestritten, von allen respektiert. Kazan holte Scorsese neben sich und umarmte ihn, dann De Niro, der ihn zärtlich berührte, und sagte: „Thank you all very much. I think I can just slip away.

[1] Kazan, Elia: A Life, New York 1988, S. 453.

[2] Ebd., S. 456.

[3] Ebd., S. 460.

[4] Zanuck zitiert nach ebd., S. 455.

[5] Kazan 1988, S. 459.

[6] Ebd., S. 458.

[7] Kazan, Elia: A Statement (Anzeige), in: New York Times, 12.04.1952.

[8] Kazan 1988, S. 469.

[9] Ebd., S. 488.

[10] Ebd., S. 491.

[11] Ebd., S. 492.

[12] Ebd., S. 519.

[13] Ebd., S. 533.

[14] Ebd., S. 529 [Herv.i.O.].