Zur humanistischen Wirkung von „Dunkirk“ als Kriegsfilm

Kurzbeschreibung: Christopher Nolans „Dunkirk erfüllt eine humanistische Mission von Kino, indem er einen wesentlichen Aspekt von Kino überwindet.

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Hätte Hitler am 24. Mai 1940 nicht per „Haltebefehl“ seine vorrückenden Panzertruppen gestoppt, wären die Reste des britischen Expeditionskorps am Strand von Dünkirchen womöglich vernichtet worden. Diese Entscheidung wird bis heute von Militärhistorikern kontrovers diskutiert und gehört zu jenen „verlorenen Siegen“, die Erich von Manstein, einer von Hitlers skrupellosen Schlachtenlenkern und der Stratege hinter dem Westfeldzug, in seinen euphemistischen Memoiren so bitter kritisierte. Was eine solche „Vernichtung“ – ein Wort, das in der Militärgeschichtsschreibung derart inflationär verwendet wird, dass es längst zur historisierenden Floskel verkommen ist – in der Realität bedeuten kann: Dies deutet Christopher NolansDunkirk“ (2017) an, und zwar vielleicht wie sonst kein anderer Kriegsfilm. Die Handlung von „Dunkirk“ entfaltet sich nicht anhand von Charakterentwicklungen, sondern zeigt 107 Minuten lang einen archaischen Überlebenskampf.

Überleben ist das narrative Vehikel dieses Films, der wort- und kommentarlos eingebettet ist in den historischen Kontext seines Themas: der Operation „Dynamo“, in welcher das britische Militär im Mai 1940 seine Truppen überstürzt vom Kontinent evakuierte, um sie nach dem verlorenen Kampf um Frankreich und die Beneluxstaaten für den anstehenden Kampf gegen die deutsche Wehrmacht um das eigene Territorium, um die britischen Inseln, zurückzuholen. Die Geschichte hat dieses geradezu surreale Szenario als idealen Filmstoff geliefert: Rund hunderttausend Soldaten der British Expeditionary Force stehen am weiten Strand der nordfranzösischen Küstenstadt Dunkerque, kaum zehn Kilometer von der belgischen Grenze entfernt – zwischen ihnen und der anrückenden Wehrmacht nur ein paar Sanddünen und leichte Stellungen.

Der Strand als klaustrophobische Todesfalle

Ein Countdown des Schreckens beginnt: Wenige Tage verbleiben dem britischen Militär, um den kurzzeitigen Halt der Wehrmachtspanzer für eine gigantische Evakuierungsaktion zu nutzen. Etwa 340.000 Soldaten, darunter auch beinahe 140.000 Belgier und Franzosen, können am Ende unter Zurücklassung schweren Kriegsgeräts – Fahrzeuge (zehntausende), Geschütze (tausende), Panzer (hunderte), tonnenweise Proviant und Munition – über den Hafen und den Strand nach England über den Kanal verschifft werden. Die haarscharf Geretteten sind das Symbol für den an Nazi-Deutschland verloren gegangenen Kontinent, jedoch auch für die Perspektive, eine Schlacht, aber noch lange nicht den Krieg verloren zu haben.

Dunkirk“ konzentriert sich auf die letzten Truppenkontingente, die Unglückseligen, die an den Molen ausharren, nachdem die Hafenanlagen bereits bombardiert worden sind. Schiffe stehen für sie nur noch in geringer Zahl bereit, von England aus haben sich in dieser Not schon kleine Fischer- und Segelboote aufgemacht – jeder noch so geringe Schiffsraum zählt. Die Soldaten am Strand müssen erst mitansehen, wie die überladenen Schiffe mit ihren Kameraden ablegen, während sie selbst in Ungewissheit zurückbleiben, dann aber werden sie kurz darauf Zeugen, wie ebendiese Sehnsuchtsorte – die Passage in die Heimat – von Bomben oder Torpedos versenkt und vom Wasser verschluckt werden, während die wenigen Überlebenden hastig zurückschwimmen und sich wieder in die endlosen Schlangen der Wartenden einreihen.

Die Klaustrophobie dieser Anspannung im Kessel von Dünkirchen ist in Nolans Film förmlich greifbar; denn ein Zurück gibt es nicht – der äußerste Punkt des Zurückweichens ist längst erreicht. Eine Szene zeigt einen Verzweifelten, der sich stumm in die Fluten stürzt, um Richtung England zu schwimmen. „Dunkirk“ enthält fast keine einzige Dialogzeile, in der man etwas über die Menschen, ihre Herkunft, ihre Gefühle, ihre Ansichten erfährt. Anders als etwa in Steven Spielbergs „Saving Private Ryan (1998) oder Joseph Vilsmaiers „Stalingrad“ (1993) gibt es keine Kameradengespräche, kein Granatlochphilosophieren, ja es gibt fast nicht einmal Geschrei, sondern oft nur Blicke, die jedoch mehr sagen, als das angsterfüllte Brüllen höchstwahrscheinlich Todgeweihter es in diesen Momenten vermocht hätte.

Traumatisierung im Kinosessel

Obwohl die Landschaft ringsum einen schier endlosen Horizont freigibt – im Rücken der Himmel über der relativ flachen Stadt, voraus der an dieser Stelle etwa 65 Kilometer breite Kanal –, sind die Soldaten eingepfercht. Und aus dieser Konstellation entstehen dann auch die stärksten, mitreißendsten, nein: hineinreißendsten Szenen des Films. Als plötzlich drei Stukas – die berüchtigten Sturzkampfbomber der deutschen Luftwaffe, mit ihren infernalischen Jericho-Trompeten, die angetrieben vom Fahrtwind des Sturzfluges akustischen Terror über ihre Opfer bringen – über die britischen Truppen am Strand hereinbrechen und ihre todbringende Bombenlast abwerfen: eine, zwei, drei Detonationen, die Soldaten haben sich in den Sand gedrückt, niemand weiß in diesen wenigen Sekunden, ob er den Angriff überleben wird. Eine Szene, wie sie vom reinen Ablauf her in unzähligen Filmen längst vorgekommen ist. Aber der Stuka-Angriff in „Dunkirk“ ist anders: Wie kreischende Furien zerreißen die Stukas förmlich die Filmmusik, und als Zuschauer erahnt man in diesem Moment den Horror jener realen Waffe, da man durch diesen drastischen Sound beinahe selbst im Kinosessel traumatisiert wird.

Überhaupt liegt darin die Stärke, auch die humanistische Leistung von „Dunkirk“: Nolan hat einen der wenigen Anti-Kriegsfilme geschaffen, die mithilfe der Kinotechnologie einen zentralen Aspekt von Kino zerstören. Denn Kino hat schon immer dem zeitweisen Entrücken der Wirklichkeit, dem Vergessen seiner selbst im abgedunkelten Kinosaal gedient. Emotional haben Filme schon immer ihre Zuschauer gepackt; aber physisch blieb man doch meistens unberührt. Die wahrnehmbare Distanz der Leinwand zum Filmgeschehen, die „vierte Wand“, die das Publikum vom Schauspiel trennt, wird in „Dunkirk“ mit brachialer Lautstärke, durch die rumpelnden Bässe und die schneidenden Höhen der lauten Kriegsszenen, durchbrochen. Man ist hier weniger Voyeur als Beteiligter. Gleich zu Beginn des Films flüchtet ein versprengter Trupp britischer Soldaten durch die Stadt, zwei der drei werden dabei erschossen, einer klettert hastig über eine Mauer in einen Vorgarten und sucht hinter einer Stahltür Schutz, durch welche sogleich die Kugeln feindlicher MG-Garben knallen – so laut, dass man in diesem Augenblick die Wucht der Projektile und ihre drohenden Konsequenzen für den menschlichen Körper förmlich erspüren kann.

Lautstarke Konfrontation

In „Das Boot“ (1981) hat Wolfgang Petersen, ebenfalls maßgeblich über die Soundeffekte, die beklemmende Enge und Ausweglosigkeit einer U-Bootbesatzung vermittelt. Dort schießen die Stahlbolzen aus der Bordwand, die detonierenden Wasserbomben schütteln das Boot mitsamt seiner Besatzung in der düsteren Tiefe des Atlantiks durch. So ähnlich, nur noch heftiger geschieht das auch in Nolans „Dunkirk. Etwa, als ein Kriegsschiff der Royal Navy von einem Torpedo getroffen wird, gerade als die erschöpften Soldaten erleichtert zu den bereitgestellten Marmeladenbroten greifen, um sich endlich von ihren Strapazen zu erholen. Diese Untergangssequenz, in der das Licht ausgeht und das Wasser dermaßen schnell in den Schiffsbauch fließt, dass darin bald die meisten ertrunken sein werden, ist quasi das perspektivische Gegenstück zu den Szenen in „Das Boot“, in denen schreiende Soldaten vom brennenden Schiff springen, während die deutschen U-Bootleute vom Ausguck des aufgetauchten Schiffs dem grauenvollen Geschehen aus sicherer Distanz beiwohnen.

Im Jahr 1969 inszenierte der „Bond“-Regisseur Guy Hamilton mit einem zeitgenössischen Staraufgebot „Die Luftschlacht um England“ (org.: „Battle of Britain“). Darin stürzen sich u.a. Michael Caine (der für „Dunkirk“ ein paar RAF-Funkkommandos eingesprochen hat) und Christopher Plummer in die lebensgefährlichen Luftgefechte über der Kanalküste, um im Sommer 1940 – also nur wenige Wochen nach der Rettungsaktion von Dünkirchen – die unablässigen Bomberströme von Görings Luftwaffe zu unterbrechen. Der Film zeigt spektakuläre dogfights zwischen den britischen Spitfires und den deutschen Messerschmitts, die heimtückischen Bombardierungen des London Blitz; auch durchschreitet er das Grauensspektrum des Luftkampfs, in dem Piloten in ihren Maschinen pfeilschnell ins Wasser stürzen, in ihrer Kanzel verbrennen oder vom Maschinengewehrfeuer ihrer Gegner durchlöchert werden.

Aber „Battle of Britain“ bleibt dabei doch immer sichtlich eine irgendwie sterile Filmstudio-Inszenierung mit akkurat nachgebauten Modellen, bei der man trotz der „echten“ Flugmanöver stets entspannt dem Leinwandtreiben zuschauen kann, relativ unbekümmert mitverfolgt, wie hier und da ein Flugzeug in Flammen aufgeht, Bomben Hangars in die Luft jagen, während sich das Bodenpersonal panisch in die Schützengräben flüchtet. Klar ist, dass man das nicht erleben möchte; aber die Beiläufigkeit des Leidens und Sterbens in Filmen dieser Art, zu denen auch „A Bridge Too Far“ (1977, dt.: „Die Brücke von Arnheim“) oder „The Young Lions“ (1958) gehört, reicht letztlich nicht aus, um den Schrecken von Krieg in all seinen Dimensionen, die unmenschliche Zerstörungskraft, zu verinnerlichen.

Dunkirk“ indes erreicht in der ersten Stunde etwas ganz Anderes als seine historischen Vorläufer des Kriegsfilmgenres aus den 1950er, 60er und 70er Jahren (wenngleich die letzte halbe Stunde dann leider doch etwas zu sehr im patriotischen Pathos der Homeland-Solidarität versinkt, als die kleinen Zivilboote mit ihren mutigen Besatzungen den Strand von Dünkirchen erreichen und zu den ergriffenen Blicken von Kenneth Branagh, der den ranghöchsten Offizier an den Molen spielt, die jubelnden Soldaten aufnehmen und heimbringen). Das Cockpit einer Spitfire, des legendären britischen Jagdflugzeugs im Zweiten Weltkrieg – häufiges Kriegsfilmmotiv –, verliert hier zum Beispiel völlig den Status einer Filmkulisse und erscheint stattdessen als unwirtliches, menschenfeindliches Kampfinstrument – spätestens wenn es sich in einer Szene langsam mit Wasser füllt, nachdem der Pilot eine Bruchlandung auf dem Ärmelkanal hingelegt hat. Welche lebensbedrohliche Gefahr es eigentlich bedeutet, wenn ein Pilot seine Maschine hinter einen feindlichen Bomber klemmt, dessen Bordschütze aber sein Abwehrfeuer beginnt – eine für Filme mit Luftkampfsszenen geradezu archetypische Szene –, vermag erst „Dunkirk“ einigermaßen nachdrücklich zu zeigen, wenn die hämmernden Geschosse auf die Maschine einprasseln. Und wenn in „Dunkirk“ ein deutscher Mittelstreckenbomber vom Typ Heinkel He 111 auf ein britisches Schiff voller Soldaten zufliegt, um darüber seine Bomben auszuklinken, während sich ein Spitfirepilot verzweifelt an einem rechtzeitigen Abschuss versucht, dann verfolgt man hier diese Abfangjagd als Zuschauer mit einer völlig anderen Intensität als ganz ähnliche Szenen in früheren Filmen.

In Christopher Nolans Verfilmung einer historischen Schlacht werden Kriegsszenen nicht einfach gezeigt; vielmehr erzeut der Film eine extreme Nähe, eine physische Einbindung, durch die er sein Publikum mit der furiosen Zerstörungswut modernen Kriegsgeräts konfrontiert. „Dunkirk“ vermittelt mit den schon immer dagewesenen Techniken des Kinos in noch nie dagewesener Weise die Wucht eines Projektils, die radikale Hilflosigkeit im Angesicht herannahender Flugzeuge oder die sekundenschnelle Verwandlung eines vermeintlichen Refugiums – das gen Heimat fahrende Schiff – in eine höllische Todesfalle so eindringlich, dass man unwillkürlich Angst bekommt vor einer solchen Militärmaschinerie, die Menschenleben auf Knopfdruck zermalmt, und man all das nie, nie, nie erleben möchte. Und das ist sicherlich keine geringe Leistung eines kommerziellen Unterhaltungsfilms.