Filmtipp

Atlantic City (1980)

Kurzbeschreibung: Louis Malle beleuchtet die kulturellen Überbleibsel einer untergegangenen Epoche: Sein Film ist ein tragikomischer Epliog auf Amerikas einstiges Refugium der Glücksspieler und Alkoholschmuggler – und eine Geschichte über enttäuschte, frische und wiedererwachte Hoffnung.

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Ein riesiger Hotelkomplex wird durch eine Sprengung pulverisiert. Damit beginnt der französische Regisseur Louis Malle&nbsp(1932–1995); seinen Epilog auf Atlantic City, das einstmals florierende Refugium für Glücksspieler und Alkoholschmuggler, knapp zwei Autostunden südlich von New York gelegen. Die Stadt gelangte unlängst zu neuer Berühmtheit durch die gefeierte TV-Serie „Boardwalk Empire“ (2010–14), in der sie mit reichlich Korruption und Gewalt von einem Gangsterboss regiert wird. Das war im betörenden Glanz der 1920er und 1930er Jahre, die auch hier, im Film, immer wieder als Referenzpunkt einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit aufscheinen.

Ein Mann, der diesen Zeiten besonders nachtrauert, ist Lou (Burt Lancaster), ein Kleinganove im Rentenalter. Mit miesen Gelegenheitsjobs hält er sich über Wasser – so arbeitet er als Dienstbote einer längst vergessenen Diva (Kate Reid), die einst in den Jahren des Zweiten Weltkriegs für einen „Betty-Grable-Look-alike-Contest“ in die Stadt gekommen ist („I was a princess!“). Immer wieder muss sich Lou selbst erniedrigen, etwa als er versucht, mit einem silbernen Zigarettenetui ein paar Dollar zu machen (er scheitert). Lou ist ein wandelnder Anachronismus; lediglich mit dem Schuhputzer Buddy O’Brien (Sean Sullivan) kann er alte Anekdoten austauschen (sie schwelgen in Nostalgie, als sie sich an einen Auftrag für den legendären Gangsterboss Nucky Johnson erinnern, für den sie eine ganze Ladung Kondomschachteln besorgen sollten).

Nucky Johnson: Wie der stilbewusste Ganove wäre Lou auch geworden. Betuchte Kerle wie Johnson waren für weniger betuchte Kerle wie Lou beneidete Respektspersonen, denen man im dekadenten Lebenswandel und brutalen Sozialverhalten nur zu gerne nachgeeifert hätte. Aber Lou ist der Aufstieg im Mafiamilieu nie gelungen – so kam er wenigstens mit dem Leben davon. Nun schleicht er über den Boardwalk, eine triste Tribüne verflogener Träume und enttäuschter Hoffnungen, auf der Suche nach ein paar Dollar in kleinen Wettgeschäften.

Aber noch immer orientiert sich Lou an den überkommenen Werten der längst untergegangenen Gangsterwelt. In einer Szene, als man ihn wie einen senilen Großvater erscheinen lassen will, ruft Lou: „I’m dangerous! People come to me from Las Vegas. I know Bugsy Siegel.“ Aber denen er damit imponieren will, wissen nicht einmal, wer Bugsy Siegel, einer der geistigen Väter des heutigen Las Vegas, überhaupt gewesen ist. Und natürlich beschränkt sich Lous Bekanntschaft mit dem cholerischen Glamour-Gangster Siegel auf einen unbedeutenden Zufall, als sie einmal zehn Minuten auf derselben Polizeistation nebeneinander gestanden haben.

Sein eigenes Scheitern bemisst Lou nicht zuletzt daran, noch nie jemanden erschossen zu haben. Die schlimmste Konstellation: Ein Mann, der aus der Zeit gefallen ist, und kein Geld hat, um die Reminszenz an alte Zeiten zumindest für sein eigenes Wohlbefinden zu zelebrieren. Stattdessen haust er in einem schäbigen Appartement und beobachtet abends durch die Lamellen der heruntergelassenen Jalousie seine junge Nachbarin Sall> (Susan Sarandon), wie die sich mit Zitronenwasser die Brüste wäscht, um den Fischgeruch loszuwerden, den sie von ihrem schlecht bezahlten Job in der „Oyster Bar“ mit nach Hause gebracht hat.

Zu der Vergangenheit, die Lou glorifiziert, gehört auch das Casino am berühmten Boardwalk. Dort versucht sich Sally an einer Karriere als Kartengeberin am Pokertisch – stets das große Ziel vor Augen, irgendwann einmal an den Tischen von Monte Carlo zu dealen. Michel Piccoli spielt den französischen Croupier Joseph, der all die jungen Frauen unter seinen Fittichen darauf drillt, den gierigen Spielern das Geld aus der Tasche zu ziehen und sich nicht hereinlegen zu lassen („They have a million clever ways of trying to cheat you. Focus!“) – das Casino als Ort für den Wettstreit des noch größeren Betrugs. Von der Eleganz und dem Pomp des Casinos in „Boardwalk Empire“ ist in der stickigen 1970er-Jahre-Teppichboden-Ästhetik nicht mehr viel übrig geblieben.

Geradezu tragikomisch ist der Teil des Films, in dem Lou durch einen Kokaindeal zu unerwartetem Geld kommt. Jetzt manifestiert sich seine materialistisch-chauvinistische Wertewelt: Sofort kauft er sich einen weißen Anzug mit Hut, um nun den Lebensstil umzusetzen, dem er solange nachgetrauert hat: Er verteilt großzügige Trinkgelder, mietet sich die beste Suite und lässt Champagner fließen. Bald auch nutzt er eine Gelegenheit, um eine Frau mit der Waffe zu verteidigen.

Der Film ist eine ästhetische Kontrastfolie zu der Vorstellung, die man mit Atlantic City und dessen Boardwalk gemhein verbindet. Das alte Atlantic City zeichnet sich unter der Fassade des neuen ab: Enorme bretterbeschlagene, abrissbereite Gebäude, an denen stellenweise die Farbe abgeblättert ist, verraten noch etwas von der Grandezza früherer Tage, in denen sie errichtet worden sind. Die einstmals passablen Einfamilienhäuser sind zu Slums verkommen; in den hässlichen Appartmentburgen formieren sich schmierige Pokerrunden, an denen Zigarrillo-bewehrte Typen sitzen und sich gegenseitig die Chips wegnehmen wollen; im Hintergrund ein Spiritousenbüffet auf dem Tisch – all das in einem plüschigen Appartement. Ob Verklärung oder Wirklichkeit: Das alte Atlantic City ist hier jedenfalls nicht.

Text verfasst von: Robert Lorenz