Filmtipp

Fat City (1972)

Kurzbeschreibung: Das Hollywood-Urgestein John Huston erzählt eine Geschichte über die andere Seite des American Dream: das Leiden unter den Möglichkeiten und verpassten Gelegenheiten. Und ganz nebenbei zeichnet er ein feinfühliges Porträt des postindustriellen Zeitalters.

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Die demolierten Gesichter haben sich in einer Kneipe versammelt und starren, bestürzt über ihre zerplatzten Träume, auf den Tisch. Der Kampfabend ist vorüber, jeder der jungen Boxer hat seine Chance bekommen. Einen erkennbaren Schritt zum Champion hat allerdings keiner von ihnen gemacht. Ihre Trainer sind da zuversichtlicher; aber die haben ja auch inzwischen alle Zeit der Welt, von ihnen erwartet kaum mehr jemand den Sprung nach ganz oben – auch wenn sie sich jedes Mal wieder über ein junges Talent freuen. Ob das im dumpfen Stakkato der Boxhiebe untergeht oder sich tatsächlich im Ring behaupten kann, ist für sie jedoch längst keine existenzielle Frage mehr; sie haben sich in ihrer Provinzboxhalle im kalifornischen Stockton einigermaßen passabel eingerichtet.

Die zertrümmerten Napoleons des Provinzboxens

Dort angekommen ist gerade der 18-jährige Ernie Munger (gespielt vom 22-jährigen Jeff BridgesInfo-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

Trotz seines jungen Alters war Jeff Bridges damals fast schon ein Filmveteran. Nachdem er mit seinem Vater, dem Film- und Fernsehstar Lloyd Bridges (1913–98), im Alter von 14 Jahren auf Tour gewesen war und diversen TV-Serien mitgespielt hatte, erhielt er seine ersten Filmrollen; bereits 1972, noch bevor „Fat City“ herauskam, war Bridges erstmals für einen „Oscar“ nominiert (als bester Nebendarsteller für „Die letzte Vorstellung“, 1971).

). Von den alten Haudegen mit den heiseren Stimmen, die aus ramponierten Kehlköpfen erklingen, lässt der sich gerne zum Youngster mit Ausblick auf eine profitable Sportlerkarriere stilisieren. Gleich nach glücklichen Anfangserfolgen kauft er sich einen extravaganten Satin-Mantel, in dem er den Ring besteigt und einen tollen Sieger hermachen würde – aber sein Gegner haut ihn aus den Schuhen, womit auch Ernie am Tisch der demolierten Gesichter sitzt. Neben ihm der ebenfalls geschlagene Buford (Wayne Mahan, gebürtig aus Stockton), der noch kurz zuvor in der Kabine mit euphorischen Sprüchen umhertänzelte und in der aggressiven Manier eines Cassius Clay predigte, man könne nur gewinnen, wenn man auch wirklich gewinnen wolle. Ihr Coach beklagt sich derweil über den Ringrichter, der die Kämpfe viel zu früh abgebrochen habe, Betrug also – so ganz genau weiß man das ohnehin nicht in dieser chaotischen Amateurklasse.

Obwohl Ernie, Buford und die anderen noch weit von nennenswerten Erfolgen entfernt sind, haben sie nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Kleine Napoleons der Box-Welt, die es jederzeit nach ganz oben spülen kann, wenn sie nur genug riskieren. Für sie eröffnet der Boxsport mitsamt seinem zwielichtigen Umfeld die Chance auf eine Karriere, die ihnen die übrige Gesellschaft verwehrt. Dort können sie aufsteigen, Ehre und Prominenz erlangen, ihren Selbstwert aufladen, viel Geld verdienen. Aber die Fights in den rauchverhangenen Hallen industriell abgewirtschafteter Kleinstädte sind ein Säurebad, das nur die wenigsten überstehen. Das Publikum, das dort zusammenfindet, sucht eine Abwechslung zum tristen Alltagstrott, manchmal auch schnelle Scheine im Wettreigen; und die Männer, die das bieten sollen, sind nicht die glücklichen Protagonisten eines glamourösen Wettkampfs, sondern armselige Gladiatoren der Moderne, die sich für eine minimale Chance auf dauerhaften Erfolg ihr Gesicht zertrümmern lassen und irgendwann Blut pinkeln.

Die Tragik des Billy Tully

Einer, der sich einmal auf dem Pfad zu diesen verlockenden Früchten befunden hat, ist der Ex-Boxer Billy Tully (Stacy Keach). Obwohl noch keine dreißig Jahre alt, ist er ein Wrack; sein Haar lichtet sich, Narben im Gesicht zeugen von harten Kämpfen, seine Frau hat ihn längst verlassen, Freunde hat er keine. Wenig an dieser abgetakelten Gestalt lässt erahnen, dass Tully mal auf der Siegerstraße unterwegs gewesen ist, seine Gegner reihenweise zu Fall brachte, bejubelt wurde. Jetzt hält er sich mit üblen Gelegenheitsjobs über Wasser, rackert sich als Erntehelfer ab und wird selbst dort häufig genug rausgeschmissen. Dann ertrinkt er seinen Kummer in einer Bar, immer die fixe Idee vor Augen, am kommenden Tag das Training wiederaufzunehmen.
Stacy Keach verleiht dieser tragischen Figur eine geniale Ambivalenz: im einen Moment traut man Tully die Rückkehr in den Profisport zu, im anderen kann man ihm beim Verlust seiner Würde zusehen. Schon in der Anfangsszene des Films erwacht Tully in seinem kleinen Appartement, sogleich eine Kippe zwischen den Lippen, die halbvolle Whisky-Flasche in Greifweite. Später dann betritt er noch vergleichsweise mondän eine stickige Kneipe, in der er dann versacken wird.
In einer von Stocktons düsteren Kaschemmen lernt Tully die Alkoholikerin Oma (Susan Tyrrell) kennen, mit der er dann zusammenzieht. Die beiden geben ein grotesk desolates Paar ab – eine großartige Performance von Stacy Keach und Susan Tyrrell (Tyrrell erhielt hierfür eine „Oscar“-Nominierung), die an die unvergessliche Performance von Lee Remick und Jack Lemmon als dauerbesoffene Eheleute in Days of Wine and Roses (1962) heranreicht.
Als Billy Tully auf Ernie Munger (Bridges) stößt, trifft er eine Art Wiedergänger seiner selbst. Von ihm lässt er sich noch einmal elektrisieren und ist plötzlich fest zur Rückkehr in den Ring entschlossen. Wenige Szenenschnitte später klammert er sich mit letzter Kraft an die Theke – der Alkohol hat ihn wieder einmal besiegt. Ein Comeback scheint zwar immer möglich, aber irgendwann ist Tully soweit gesunken, dass er sich sogar von der abgewrackten Trinkerin Oma abservieren lassen muss.

Die Outcasts der amerikanischen Krisengesellschaft

Natürlich sticht zuallererst dieser erschütternde Kontrast zwischen dem Aufsteiger Ernie und dem Absteiger Tully hervor. Aber die Stärke des Films liegt woanders: „Fat City“ hat keine Handlung im klassischen Sinne, „Fat City“ ist eine Introspektion, der verstohlene Blick in eine Welt, die uns fremd vorkommt, verstört. Schon zu Beginn des Films schweift die Kamera durch die staubigen Straßen von Stockton, am Rand kauern menschliche Ruinen, bemitleidenswerte Modernisierungsverlierer.

Regisseur John Huston (1906–87), eigentlich ein Gardist des alten Hollywood, inszeniert hier einen grandiosen Film im Stile des New-Hollywood-Kinos, ein Porträt des Mittleren Westens im heraufziehenden Zeitalter der postindustriellen Wirtschaft Info-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

Sowohl John Huston (1906–87) als auch Drehbuchautor Leonard Gardner (der aus Stockton stammt) hatten sich in jungen Jahren als Amateurboxer versucht. Der Film basiert dann auch auf Gardners gleichnamigem Roman, der 1969 erschien.

. John Huston: Das ist der Mann, der Stilikonen des Film noir erschuf, von ihm stammen (u.a.) die Bogart-Klassiker Die Spur des Falken“ (1941) (Review auf Filmkuratorium.de lesen) und Key Largo“ (1948) (Review auf Filmkuratorium.de lesen). Huston saß auch schon auf dem Regiestuhl, als die betagte Queen des Boulevards, Zsa Zsa Gabor (Jahrgang 1917) in „Moulin Rouge“ (1952) ihren ersten Gehversuch auf der großen Hollywood-Bühne unternahm. Kein Wunder, dass er dann irgendwann ins Abseits geriet; doch „Fat City“ brachte ihn 1972 zurück. Jetzt, nach Vietnam und am Ende der Nixon-Ära, passte das, was Huston so virtuos beherrschte, wieder ins Bild: die latent pessimistische Atmosphäre, ein verbittertes Klima, der Blick auf tragische Outcasts und ungewisse Schicksale.

Mit alldem harmoniert auch noch der Soundtrack: Vom Schauspieler und Country-Barden Kris Kristofferson stammt der programmatische Titelsong „Help Me Make It Trough the Night“ und als sich Tully und Oma am helllichten Tag in einer Bar besaufen, läuft im Hintergrund leise Dusty Springfields „The Look of Love“. „Fat City“ ist ein audiovisuell beeindruckend stimmiges Werk, das – zum Glück – weit von den gängigen Sportfilmen abweicht. In der Anfangsszene liegt Tully in Unterwäsche auf seinem Bett, angestrahlt vom Tageslicht. Aufzustehen scheint ihn ebenso viel Kraft zu kosten wie einst das Erreichen der fünften Runde. Doch es wird nicht der schlechteste Moment für ihn sein.

Text verfasst von: Robert Lorenz