Serientipp

Utopia (2013–14)

Kurzbeschreibung: Exzentrische Figuren, surreale Musik und eine aberwitzige Story: „Utopia“ spielt mit klassischen Paranoia-Motiven und wartet mit einer brillanten Qualität auf, die das Format eines abendfüllenden Films überfordern würde – als hätten sich die Coen-Brüder mit Danny Boyle gegen Hollywood verschworen.

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Von der britischen Insel aus hat sich in den letzten Jahren eine ganze Schwemme brillanter TV-Serien über den Globus ergossen. Eine davon ist das hierzulande erstaunlich unterbelichtete „Utopia“. Sie beginnt mit einer befremdlichen Szene, in der ein Mann in brauner Lederjacke in einem Videospieleladen allen Anwesenden immer wieder die gleiche Frage stellt: „Where is Jessica Hyde?“ Die Antwort darauf, geschweige denn deren Sinn erhellen sich erst nach mehreren Episoden.

Erst nach dieser Eingangssequenz, die einen Vorgeschmack auf die bisweilen drastischen Gewaltdarstellungen späterer Szenen liefert, wird so etwas wie eine Handlung eingeleitet: Eine vierköpfige Gruppe – ein vom Job zu Tode gelangweilter IT-Spezialist, eine von schwerer Nervenkrankheit bedrohte Uni-Absolventin, ein paranoider Hacker und ein elfjähriger Junge – gelangt an das Wissen um ein mysteriöses Manuskript eines genialen Mannes, der darin vor seinem Selbstmord in der Psychiatrie seine Gedanken in verstörenden Bildern verschlossen hat. Noch ehe sie begreifen, worum es eigentlich geht, finden sie sich im Zentrum einer düsteren Verschwörung, hinter der mächtige Instanzen stecken müssen – denn die sind in der Lage, außerhalb jeglicher staatlicher Kontrolle zu überwachen, zu manipulieren, zu morden. Wer diese Geheimorganisation ist und welche Ziele sie verfolgt, klärt sich erst im Verlauf mehrerer Episoden. Nur eines scheint sicher: Das „Utopia“ genannte Manuskript muss der Schlüssel zu einem unsagbar kostbaren Geheimnis sein.

Um was es in „Utopia“, der Serie, konkret geht, ließe sich nicht sagen, ohne viel zu viel von der Handlung preiszugeben – und soll deshalb an dieser Stelle verschwiegen werden. Was die Serie jedoch auszeichnet, ist zum einen das Spiel mit der klassischen Paranoia, der zufolge die Machenschaften verborgener Mächte das Schicksal der Menschen bedrohen – ohne dass die meisten davon auch nur Notiz nehmen – und verfassungsrechtlich legitimierte Instanzen außerstande sind, diese Mächte zu kontrollieren; und zum anderen eine Vielzahl exzentrischer Charaktere, die in unterschiedlichen Konstellationen und teils skurrilen Situationen aufeinandertreffen.

Die unheimlichste und zugleich womöglich beste Figur ist der wortkarge Killer Arby (Neil Maskell), dessen lakonischer Stil unweigerlich an Gestalten aus einem Film der Coen-Brüder erinnert, an eine britische Variante von Javier Bardems Anton Chigurh aus „No Country for Old Men“ (2007). Allein seinetwegen lohnt sich, die Serie im englischen Originalton zu schauen – denn viel zu gut sind die unnachahmlich britischen Dialekte und die Wortwahl, als dass sie in einer anderen Sprache ihre Wirkung beibehalten könnten. „Where is Jessica Hyde?“ Diese bedrohlich minimalistische Frage, sagt dem Befragten in diesem Moment ebenso wenig wie den Zuschauern; aber Arby erwartet eine adäquate Antwort – und jeder, der sie ihm nicht geben kann (oder weitaus seltener: geben will), segnet das Zeitliche. Fast noch unheimlicher, weil weitaus redseliger und eleganter als der grobschlächtige Arby ist dessen Partner Lee (Paul Ready). Mit einer Fünfzigerjahre-Haartolle und im dandyhaften Aufzug vollzieht er eine der vermutlich grausamsten Folterszenen, die im Fernsehen jemals gezeigt worden sind.

Ohne auch hier zu viel zu verraten: Die üblichen Prinzipien, nach denen Unterhaltungsformate wie eine TV-Serie funktionieren, kommen in „Utopia“ nicht zum Tragen – im Zweifel bleibt niemand verschont, nicht einmal Kinder. Die Kunst der Serie besteht darin, dass trotz dessen die drastischen Gewaltdarstellungen zu keinem Zeitpunkt inflationär, beliebig wirken.

Für wen Arby und Lee ihr grausames Mordhandwerk verrichten, wieso sie mit solch brutaler Gewissenhaftigkeit nach Jessica Hyde suchen und wer diese Frau eigentlich ist: Daraus entspinnt sich der sinistere Handlungskomplex, um den „Utopia“ kreist. Neben den außerordentlich sorgfältig, ja filmreif entworfenen Charakteren, wahnwitzigen Szenen und zutiefst verstörenden Bildern profitiert die Serie von ihrer surrealen Musikbegleitung. Nachdem man über zwei Staffeln hinweg mit „Utopia“ vertraut geworden ist, ist das Bedauern über die Einstellung dieser grandiosen Serie umso größer.

Text verfasst von: Robert Lorenz