Filmtipp

Lenny (1974)

Kurzbeschreibung: Ein Komiker, der vor dem kleinbürgerlichen Publikum der 1950er Jahre versagt, aber in den 1960ern mit seiner improvisierten Gesellschaftskritik den Nerv einer jungen Generation trifft: Der erbarmungslose Perfektionist Bob Fosse lässt den tragisch verstorbenen Stand-up-Comedian Lenny Bruce wiederaufleben. Dustin Hoffman spielt ihn mit beeindruckender Akribie.

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Die mythische Aura, die sich mit dem titelgebenden Protagonisten des Films – einer realen Person – verbindet, kommt gleich zu Beginn auf. In Gesprächen erzählen Angehörige und Weggefährten von dieser einzigartigen Persönlichkeit, diesem rätselhaften Mann, der offenbar nicht mehr am Leben ist, aber dessen Biografie eine aufwändige Recherche wert zu sein scheint. Aus dem Rückblick werden Aufstieg und Untergang des Lenny Bruce erzählt – eines kontroversen Satirikers aus den kulturell befreienden, politisch turbulenten Sechzigern, der nur vierzig Jahre alt wurde.

Lenny Bruce (Dustin Hoffman), der eigentlich Leonard Alfred Schneider heißt, kann einem leidtun. Er steht auf der Bühne, müht sich ab; doch seine Gags und Imitationen kommen nicht an, selbst die Musiker der Begleitband schlafen ein. Es sind die Fünfziger, das Jahrzehnt der Atom- und Wasserstoffbomben, des Koreakriegs und des heraufziehenden Massenkonsums, als Hornbrillen noch nicht das Signum junger Kreativer waren, sondern für piefigen Konservatismus standen. Im Weißen Haus sitzen damals Präsident Dwight D. Eisenhower und sein Vize Richard Nixon (der schon damals, noch viele Jahre vor „Watergate“, eine umstrittene Politfigur war). Für das spießbürgerliche Publikum, das vor der Bühne des jungen Entertainers sitzt, ist Lenny Bruce der falsche Mann zur falschen Zeit. Womit er diese Leute für sich einnehmen könnte, widerstrebt seiner Persönlichkeit.

Und der bleibt er sich treu, ist unangepasst und zornig, heiratet eine Stripperin und lässt sich den Mund nicht verbieten. Als ihm ein etablierter Entertainment-Kollege – für Bruce ein Symbol des verkrusteten Amerika – nahelegt, sich für eine rhetorische Entgleisung vor dem Publikum öffentlich zu entschuldigen, stimmt Bruce zu, tritt an das Mikrofon und sagt: „I think I’m gonna piss on you.“

Für Bruce stellt sich daraufhin eine Krise ein; seine Karriere stagniert, Rückschläge folgen. Schon bald verdient er sein Geld in einem Nachtclub, in dem er nach ein paar Gags die Stripperinnen ankündigt. Aber hier, zwischen „Miss Cindy“ und „Miss Baby Babylon“, findet er seinen individuellen Stil, kann er sich gefahrlos austoben und experimentieren. Denn der Durchbruch gelingt ihm erst, als er seine Methode wechselt, als er statt wie früher vorgefertigte Stücke aufzuführen jetzt nur noch improvisiert – und das beispiellos genial. Bruce, der neue Geheimtipp, spricht sich rum; die Klubs, in denen er vor der inzwischen klassischen Stand-up-Comedy-Kulisse – der unverputzten Backsteinwand – auftritt, sind nun bis auf den letzten Quadratmeter gefüllt. Jetzt beginnt für den bis dahin glücklosen Entertainer eine neue Lebensphase, stellt sich mit einem Male ungeheurer Erfolg ein.

Bruce wird im Radio übertragen, die Gagen bestimmt er. Sein Erfolg liegt zum einen an seinem neuen Stil, der Improvisation; zum anderen aber hat sich inzwischen auch der Zeitgeist gewandelt, ist die Generation der 68er aus dem Jugendalter herausgetreten, dominiert nun den Campus der amerikanischen Universitäten und strömt auf den Arbeitsmarkt der Dienstleistungsgesellschaft. Eisenhower ist aus dem Weißen Haus ausgezogen; dort sitzt und lenkt jetzt John F. Kennedy – insgesamt ein gesellschaftlicher und politischer Klimawandel, von dem einer wie Lenny Bruce nur profitieren kann.

Die konservativ-kleinbürgerlichen Frauen und Männer von Mitte vierzig bis Mitte fünfzig, die den Mief der amerikanischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich herumgetragen haben, sind aus seinem Publikum verschwunden. Jetzt sind es die aufstrebenden Studenten und jungen Intellektuellen, die an Lenny Bruces Lippen kleben, über seine zweideutigen Scherze lachen und seiner liberalen Gesellschaftskritik applaudieren. Schwarze, Weiße, Juden, Christen, Schwule, Lesben: Der Komiker baut seine Witze oft auf Teilgruppen der Gesellschaft auf, wird aber als liberaler Heilsbringer gefeiert, weil er diese Gesellschaftsgruppen gleichermaßen in seine Satire einbezieht, dadurch Gleichberechtigung demonstriert, Integration praktiziert.

Bruce redet sich in Rage, kreiert wunderbar komische Witze, mit denen er die Bigotterie der amerikanischen Gesellschaft und Politik entlarvt. Damit kommt ihm eine wichtige soziale Funktion zu: Denn wie gesagt, sein Publikum sind nun die Leute, die nach und nach in den folgenden Jahren das Land liberalisieren, die mit der Bürgerrechts- und Friedensbewegung sympathisieren und gegen den Vietnamkrieg demonstrieren werden. Ihnen gegenüber spricht Bruce aus, was sich niemand traut, bricht Tabus am laufenden Band – so energisch, dass er noch mehrmals auf der Bühne verhaftet wird, viel Zeit in Gerichtssälen vergeuden muss und die staatlichen Sittenwächter ungebetene Dauergäste seiner Shows sind. Für Lenny Bruce sind das die goldenen Jahre, in denen er maßlos viel Geld verdient und sich ein stattliches Anwesen mit Bediensteten leisten kann. Die Jahre im ärmlichen New Yorker Appartement und als Stripshow-Moderator? Passé!

Doch wie so oft folgt auf den Zenit der Abstieg – nur dass dieser biografische Konjunkturausschlag im Falle von Lenny Bruce besonders dramatisch ausfällt. Denn die ständigen Gerichtsprozesse, in denen er zum Gefangenen juristischer Vorgänge, zum Leidtragenden eines von ihm abgelehnten, ja satirisch bekämpften Moralkonsenses wird und hilflos den Polizisten, Richtern und Staatsanwälten ausgeliefert ist, brechen ihn. Er wird zum Feind erklärt einer Gesellschaft, die überkommenen Werten und Normen anhängt, die Lenny Bruce ablehnt, und die doch so große Stücke auf ihre Toleranz hält. Sein Drogenkonsum nimmt daraufhin zu, wird heftig, raubt ihm die Sinne und zehrt allmählich seinen Genius auf. Um sein Leid öffentlich zu machen, verliest er auf der Bühne manisch die Prozessprotokolle und Gerichtsakten; doch aus der anfangs für sich selbst sprechenden Absurdität dieser Zeugnisse wird am Ende eine Obsession, mit der er sein Publikum vergrault.

Und dann die Drogen: Vollgedröhnt stolpert er im Bademantel auf die Bühne, nuschelt, verliert den Faden und irrt in der Manier eines Debilen vor dem peinlich berührten Auditorium umher. Dann stürzt er in die Toilette, um sich zu übergeben. Dieses Sinnbild für den Niedergang von Lenny Bruce wird minutiös und quälend in einer langen Sequenz gezeigt. Vermutlich existiert nur eine Handvoll Filme, die so eindringlich den Verfall eines Menschen zeigen wie „Lenny“. Wie Regisseur Bob Fosse (1927–87) und sein Hauptdarsteller Dustin Hoffman diesen traurigen Prozess der Degeneration vom genialen Künstler und liberalen Kritiker zum paranoiden Drogenwrack darstellen: Das ist beeindruckend und berührend.

Überhaupt: Hoffman erweckt den originalen Lenny Bruce mit einer unfassbaren Genauigkeit zum Leben, spricht dessen anhand von Aufnahmen überlieferte Show-Monologe nach und lässt die Zuschauer dabei völlig vergessen, dass es sich hier um einen Film, eine Rekonstruktion, handelt. Nie wirkt er dabei wie ein künstliches Imitat, selbst die Vielfalt der unterschiedlichen Lebensstadien und Karrierephasen vermag er glaubwürdig auszudrücken. Wie anstrengend das gewesen sein muss, einen Akt einzuüben, der seinerseits ein eingeübter Akt war. Kennt man andere Bob-Fosse-Filme, wie etwa Sweet Charity (1969) oder All That Jazz“ (1979) (Review auf Filmkuratorium.de lesen), und weiß man um Fosses perfektionistischen Anspruch, kann man sich Hoffmans Performance als Strapaze ausmalen Info-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

Für eine Dreier-Sexszene, gegen die sich die zweite Hauptdarstellerin des Films, Valerie Perrine, sträubte, stellte ihr Fosse leichte Drogen und Champagner in den Trailer, die sie entspannen sollten. Und um sie für eine Breakdown-Aufnahme in einen emotional aufgewühlten Zustand zu versetzen, rief er ihr während des Drehs aus dem Off zu, ihr Freund sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen und sie solle sich doch daran erinnern, wie sehr sie ihn geliebt habe (Perrine wusste angeblich vorher, dass dies erfunden war).

. Verrückt, dass er dafür lediglich eine „Oscar“-Nominierung, nicht aber die Trophäe erhieltInfo-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

„Lenny“ bekam bei den „Academy Awards“ 1975 keinen einzigen „Oscar“, war aber in fünf weiteren Kategorien nominiert („Bester Film“, „Beste Hauptdarstellerin“, „Bester Regisseur“, „Bestes adaptiertes Drehbuch“ und „Beste Kamera“). Hoffman, Perrine und Fosse waren 1975 außerdem für je einen „Golden Globe“ nominiert.

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Auch so ist die Inszenierung an allen Ecken und Enden stark. Wie durch Zauberhand lassen Fosse und sein (hierfür „Oscar“-nominierter) Kameramann Bruce Surtees eine tolle Live-Atmosphäre aufkommen; bei den Auftritten, denen im Film ausgiebig Platz eingeräumt wird, hat man bisweilen das Gefühl, als Teil des Publikums direkt in den Klub, vor die Bühne des Lenny Bruce, versetzt zu werden. Dazu trägt letztlich auch die Schwarz-Weiß-Optik bei, in die der Film getaucht ist. Sie verleiht dem Werk geradezu den Charakter eines Dokumentarfilms – wenn die Kamera auf den drogengetränkten Partys die verschwitzten, fertigen Gesichter der Gäste in Großaufnahmen zeigt, niedrige Perspektiven einnimmt und dann über die Feierleichen hinwegschwebt – dann erinnert das streckenweise an Larry Clarks legendäres Jugenddrama „Kids“ (1995).

Am Anfang verleiht Hoffman seinem Lenny Bruce die Attitüde des lebenslustigen Aufsteigers, dem noch alle Tore offenstehen, der noch Zeit hat, auf seine Chance zu warten. Nachdem er die Stripperin Honey (Valerie PerrineInfo-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

Valerie Perrine, die vor „Lenny“ als Vegas-Showgirl gearbeitet hatte und in dem Film mehrere Nacktszenen absolviert, kritisierte zu Beginn der 1980er Jahre die Frauenbewegung, da diese Frauen nur wieder auf andere Art abhängig mache, nämlich von anderen Frauen. Außerdem: „Men have always been on top and that’s where I want to keep them.“

) kennengelernt hat, und sein Glück, diese attraktive Frau für sich gewonnen zu haben, kaum fassen mag, füllt er ihr Zimmer mit Blumen, von denen sie überrascht werden soll. Als er zurückkehrt, springt er durch den Gang und hechtet zur Tür – hinter der sich die Angebetete für ihn splitternackt auf dem Bett drapiert hat. Perrine und Hoffman spielen kongenial dieses heitere Paar, auf der Suche nach Glück. Umso härter fällt dann der Kontrast aus: Später sind beide von Drogen gezeichnete Absteiger, verlieren all ihr Geld, zerstören das, was sie sich aufgebaut und mühsam dem Schicksal abgerungen haben. Lenny Bruce wird in seinem Haus tot aufgefunden, völlig unbekleidet liegt er am Boden. Der fiktive Interviewer stoppt seine Tonbänder, der Film endet – eine ergreifende Darstellung der Karriere des großen Tabubrechers, der sich am Ende selbst zerstörte.

Text verfasst von: Robert Lorenz