Serientipp

Fortitude (2015–)

Kurzbeschreibung: Fortitude ist eine norwegische Kolonie im arktischen Ozean, angeblich der sicherste Ort der Welt – noch nie hat es hier ein Verbrechen gegeben. Ein brutaler, rätselhafter Mord ändert alles. Fortan häufen sich schreckliche Ereignisse in der kleinen Siedlung, deren Bewohner einem Desaster entgegensehen. Die hungrigen Eisbären sind bald nur noch die geringere Bedrohung.

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Seine große Sorge ist in diesem Moment vergangen. Er denkt jetzt nicht mehr an seinen unheilbaren Leberkrebs, dem er ausgeliefert ist. Gerade hat er nur eines im Sinn: Dem Mann zu helfen, den er da durch den Zoom seiner Kamera gesichtet hat. Auch dieser Mann scheint dem Tod geweiht, der Eisbär über ihm frisst an seinen Gliedmaßen. Henry Tyson (Michael Gambon) nimmt sein Gewehr, blickt durch das Zielfernrohr und drückt ab. Aber nicht der Eisbär, auf den er gezielt hat, zuckt beim Einschlag des abgefeuerten Projektils, sondern der Mann, den Tyson retten wollte. Noch perplex von seinem offenbaren Fehlschuss hört er eine wohlvertraute Stimme: die des Sheriffs (Richard Dormer), der ebenfalls vor Ort ist und an seinem Fahrzeug steht. Der fordert ihn auf zu verschwinden, ruft, er werde die Angelegenheit schon klären. Tyson geht nach Hause.

In der Anfangsszene von „Fortitude“ verdichten sich gleich etliche Aspekte dieser Serie, die auf Spitzbergen, inmitten des arktischen Ozeans spielt: der Eisbär als allgegenwärtige Gefahr für sämtliche Stadtbewohner – ein gnadenloses Raubtier, das seine Opfer bei lebendigem Leib verspeist und dessentwegen man die Stadt nie ohne Gewehr verlassen darf; aber auch die verschworene Solidarität einer entlegenen Gemeinschaft, deren Mitglieder unter den widrigen Lebensbedingungen darauf angewiesen sind, sich gegenseitig zu helfen. So kann Tyson fest damit rechnen, dass ihm keine unangenehme Untersuchung ins Haus steht, dass er keinerlei Fragen zu dem dramatischen Ereignis im Eis wird beantworten müssen.

Am Ende der Welt

Das norwegische Hammerfest gilt als „nördlichste Stadt der Welt“; aber das verdeutlicht nur die extreme Lage der kleinen Siedlung Fortitude, die nochmals nördlich von Hammerfest liegt und nur zu Wasser oder per Flugzeug zu erreichen ist. Wer hier angekommen ist, befindet sich weit abgeschlagen von der Zivilisation, gewissermaßen am Ende der Welt – und dennoch ist viel dafür unternommen worden, das Leben nahe der Polkappe normal und gewöhnlich zu gestalten. Fortitude verfügt über eine stattliche Infrastruktur: Geschäfte, eine Krankenstation, ein Hotel, eine Bar und ein Forschungszentrum. Außer, dass es extrem kalt ist und man deshalb nie ohne zentimeterdicke Kleidung das Haus verlassen sollte, scheint die Kleinstadt ihren Bewohnern ein annehmliches Leben zu bieten – aber natürlich ist sie auch Anlaufstation für Abenteuerlustige und Glücksjäger oder Leute, die ihre Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich lassen wollen.

Und so wirbt die kleine Stadt für sich auch als Ort von Sicherheit – schließlich habe es hier noch nie ein Verbrechen gegeben. Zudem plant die Gouverneurin („Kommissarin Lund“ Sofie Gråbøl) die Errichtung eines luxuriösen Hotelkomplexes, mitten auf dem ewigen Eis. Für dieses kühne Unterfangen sucht sie noch nach Investoren. Schließlich sollen die Arbeiten am Fundament des „Glacier Hotel“ möglichst bald beginnen, am Dock wird schon der erste Bohrkopf ausgeschifft. Noch ist es allerdings nur ein Miniaturmodell, das die Fantasie seiner Betrachter anregt.

Das Image von Fortitude soll das einer sicheren, prosperierenden Gemeinde sein. Doch gerät es mitsamt den ambitionierten Hotelplänen in Gefahr, als der Chef des Forschungszentrums (Christopher Eccleston) brutal in seinem Haus ermordet wird. Die örtlichen Polizeikräfte sind mit dem Fall überfordert, vielmehr: Sie stehen sogar selbst unter Verdacht. Denn der Tote ist gerade dabei gewesen, sein Gutachten zu revidieren, womit sich der Traum vom Hotelbau schnell zerschlagen hätte. Und weil er britischer Staatsbürger war und überdies ein anonymer Anruf bei der Londoner Polizei einen drastischen Verdacht geweckt hat, reist nun ein Mann der britischen Polizei an, der gebürtige Amerikaner und Ex-FBI-Ermittler DCI Morton (Stanley Tucci).

Summer is coming

Über Mortons plötzliche Anwesenheit ist niemand der Einheimischen froh. Die Autoritäten von Fortitude legen dem fremden Ermittler haufenweise Steine in den Weg – ein „Fuck off!“ ist da noch die freundlichste Reaktion, auf die Morton stößt. Aber Sheriff Dan Anderssen, ein norwegischer Arktishaudegen, merkt schnell, dass sich Morton nicht abschrecken lässt und ein unerträglich gewiefter Kerl ist.

Stanley Tucci spielt diesen Charakter in einer herausragenden Art und Weise: Nach außen hin tritt er stets freundlich, bisweilen charmant, jedenfalls immer kontrolliert auf. Doch hinter dem sympathischen Gesicht und der beherrschten Artikulation verbirgt sich eiskaltes Kalkül: Als der Emissär der Londoner Polizei und der Sheriff eine Whiskyflasche leeren, entsteht daraus nicht wie in so vielen Filmen und Serien ein Bonding-Moment, in dem die vormalige Rivalität über die versöhnliche Brücke des Alkohols in ein herzliches Bündnis hinübergleitet; stattdessen gehört der vermeintliche Verbrüderungsakt zu Mortons wohlüberlegter Suche nach Informationen, die er auch in diesem Augenblick nicht vernachlässigt; in einer anderen Szene teilt Morton der Frau des ermordeten Professors die Hiobsbotschaft in einer Weise mit, die ihm gezielt Klarheit darüber verschafft, ob die Hinterbliebene an dem Tod in irgendeiner Form beteiligt gewesen ist – auch wenn sich deren Schock dadurch umso größer ausnimmt; und Morton schreckt auch nicht davor zurück, auf der Krankenstation einen kleinen Jungen mit erfrorenen Füßen aus dem künstlichen Koma aufzuwecken, um ihn einer Befragung zu unterziehen, während das Kind durch den allmählich erwachenden Schmerz der Frostbeulen Höllenqualen leidet.

Aber es gehört zu den Stärken der Serie, dass Anderssen dem Londoner Ermittler in gewisser Weise ebenbürtig ist. Der wortkarge Sheriff von Fortitude mag zwar kein beschlagener Forensiker sein, aber er hat einen wachen Instinkt und vermag brenzlige Situationen blitzschnell zu deuten. Trotzdem sind Morton und Anderssen grundverschiedene Persönlichkeiten, woraus eine zusätzliche Spannung erwächst, die das Rätsel um den Tod des Wissenschaftlers bereichert.

Die beiden Polizisten sind mit einem brutalen Tatort befasst, der sofort an die blutrünstigen Ritualmorde in „Hannibal“ (2013–) oder der ersten Staffel von „True Detective“ (2014) erinnert. Überhaupt reiht sich „Fortitude“ – derzeit gemeinsam mit „The Knick“ (2014–) – in den Serientrend ein, viel Fleisch und Blut zu zeigen. Manche Szenen enthalten Bilder, die man nicht oft sieht und die ihr Publikum schonungslos mit pikanten Details der menschlichen Anatomie konfrontieren.

Für die Bewohner der Siedlung – so viel sei hier verraten – beginnt mit dem Tod des Professors erst die Unglücksgeschichte. Bald schon geschehen seltsame Dinge in Fortitude; und sie setzen unter den Einwohnern ein Gewaltpotenzial frei, das man in Filmen und Serien sonst nur aus sozial rückständigen Kleinstädten der amerikanischen Südstaaten kennt. Gegenseitiges Misstrauen kocht hoch und der Ruf nach Selbstjustiz erklingt, nachdem die personell überforderten Behörden die Situation offenbar nicht in den Griff bekommen – zumal durch die allgemeine Pflicht, wegen der Eisbären ein Gewehr mit sich zu führen, die ganze Stadt schwer bewaffnet ist.

Jetzt denkt jeder nur noch an sich selbst, die ethischen Schranken drohen zu fallen. Verzweifelt wird sich im Laufe der Serie die Gouverneurin an das „Mainland“ wenden; doch für die norwegische Regierung ist Fortitude lediglich eine bedeutungslose Kolonie, ein verzichtbares Projekt, das scheinbar gescheitert ist und ohnehin keine relevanten Wählerstimmen bedeutet. Moralisch und klimatisch ist es dort bald so kalt, dass man sich im Unterschied zur berühmten Redewendung aus „Game of Thrones“ in Fortitude mit zaghaftem Optimismus zuraunt: „Summer is coming.“

Hohes Suchtpotenzial dank vieler Figuren und einer wirklich gelungenen Atmosphäre

Neben der arktischen Landschaft, die der Serie eine eigenständige Note verleiht und durch Bild und Kameraperspektiven sehr stimmungsvoll eingefangen wird, sind es v.a. die unterschiedlichen, teils skurrilen Figuren, die nach und nach auftreten: der krebskranke Polarfotograf, der sich mit hartem Alkohol betäubt, aber immer um seine Mitmenschen besorgt ist; ein Sheriff und eine Gouverneurin, die bisweilen das Gesetz der Gemeinschaft unterordnen und bei denen man sich daher nie sicher sein kann, was sie noch alles vertuscht und angestellt haben; ein Lehrer, der sich zum „Feeder“ seiner korpulenten Freundin machen will; zwei Minenarbeiter, die sich von einem sensationellen Fossil einen lukrativen Deal erhoffen; ein Afghanistan-Veteran, der mit seiner Familie ein neues Leben beginnen will; oder ein ominöser Russe, der mit unberechenbarer Aggression sein Unheil treibt.

Und freilich mag Fortitude noch so klein und abgelegen sein, dennoch wohnt dem Ort ein sozial spannungsreiches Paradoxon inne: Nicht trotz, sondern gerade weil die Umgebung voller schneebedeckter Berge so grenzenlos ist und man sich als Einzelner leicht in dieser weißen Weite verlieren kann, herrscht in der Stadt eine extreme Nähe. Fremdgehen ist an der Tagesordnung, nahezu keine Bewegung bleibt unbemerkt, Enge und Gefahr der Stadt im ewigen Eis sorgen für eine manchmal erleichternde, manchmal bedrückende Intimität. Und so kommen in „Fortitude“ gleich mehrere Genres zusammen, allerdings ohne dabei unentschlossen und chaotisch zu wirken: Krimi, Psychothriller, Mystery.

Als Zuschauer zieht man an der Seite von DCI Morton durch diese eigentümliche Stadt, erfährt immer mehr über den mysteriösen Todesfall und sogar langsam, worum es in „Fortitude“ am Ende eigentlich gehen wird. Diese sukzessive Hinführung zum Kern der Handlung und der allmähliche Weg in desaströse Einzelschicksale und radikale Beziehungen sind die Triebkräfte hinter dem Verlangen, möglichst schnell immer mehr der vorerst zwölf Episoden zu verschlingen. Hohe Suchtgefahr!

Text verfasst von: Robert Lorenz