Serientipp

Gracepoint (2014)

Kurzbeschreibung: Unter enormem Zeitdruck müssen zwei Detectives in einem kalifornischen Touristennest den Mord an einem Jungen aufklären. Während sie dabei mit energischer Härte und Präzision nach dem Täter fahnden, sind die Bürger um das Image ihrer Kleinstadt als beschauliches Ausflugsziel besorgt. Die Ermittlungen entlocken dem Urlaubsort etliche Familientragödien und dunkle Geheimnisse.

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Und plötzlich ist es ganz still. Die Kleinstadt, die eben noch ein beliebtes Ausflugsziel war, ist in eine Schockstarre verfallen. Ein kleiner Junge, ein Einheimischer, ist tot; seine Leiche liegt am Strand, unweit der heranschwemmenden Wellen des Pazifiks. Idylle und Grauen liegen direkt nebeneinander. Statt Bade- und Wandertouristen bevölkern den Küstenabschnitt irgendwo in Kalifornien nun Polizisten und Forensiker (gedreht wurde tatsächlich aber an unterschiedlichen Orten in Kanada). Ein Mord, wie sich schnell herausstellen wird.

Der weiße Hai als Mensch

Die Ermittlungsarbeiten, die nun beginnen und eigentlicher Gegenstand der Handlung von „Gracepoint“ sind, stehen deshalb auch unter enormem Zeitdruck: Denn Bestürzung und Mitgefühl der Einwohner von Gracepoint weichen schon bald ökonomischen Ängsten. Solange der Strand gesperrt ist, entgehen den Besitzern und Angestellten der kleinen Läden und der Gastronomie dieses beschaulichen Küstennests wichtige Einnahmen. So hat der Tod des Kindes zwar zunächst eine Familie zerrüttet, doch bedroht er nun auch die finanzielle Existenz vieler Menschen in der Stadt – die Tragödie einzelner droht sich zur Katastrophe für das Kollektiv auszuwachsen. Ein wenig erinnert das an „Der Weiße Hai“ (1975), als der Bürgermeister von Amity die Attraktivität des kleinen Urlaubsorts von der Arbeit des Polizeichefs bedroht sieht. Anders als in Amity besteht der Horror von Gracepoint aber nicht in einem scharfzahnigen Killerfisch, sondern in einer anonymen Person – die eigentlich noch gefährlicher ist, weil sie viel großräumiger, unerkannter und willkürlicher töten kann als ein weißer Hai.

Gracepoint ist zwar kein Dorf, aber dennoch so klein, dass sich die meisten der Einwohner untereinander kennen – und beobachten. Die Ambivalenz einer solch überschaubaren Gemeinschaft wird sich über die insgesamt zehn Episoden der Miniserie immer wieder zeigen, wenn neben kollektiven Kraftakten auch gegenseitiges Misstrauen aufkommt. Das beginnt schon am Anfang, als die Hinterbliebenen des toten Jungen, Danny Solano (Nikolas Filipovic), der Polizei eine Liste mit Verdächtigen überreichen – auf der sich Lehrer und enge Freunde befinden.

Die Polizei – das sind hier vor allem Detective Ellie Miller (Anna Gunn) und Detective Emmett Carver (David Tennant). Eine ganz starke Besetzung: Gunn spielte in „Breaking Bad“ (2008–13) in fast siebzig Episoden Skyler White, die Frau des todgeweihten Protagonisten Walter White. Und David Tennant hat sich zwischen 2005 und 2013 fast fünfzig Mal in die Rolle des „Doctor Who“ begeben – ein Format, an dessen Langlebigkeit und Kultstatus in Großbritannien allenfalls James Bond heranreicht. Tennant ist Brite, spricht hier aber mit amerikanischem Akzent, was im englischen Originalton manchmal zum Schmunzeln anregt – besonders wenn man sich in Erinnerung ruft, mit welch üblem Schottendialekt er etwa in der Miniserie „Blackpool“ (2004) redet. Tennant spielte auch schon in der Krimi-Serie „Broadchurch“ (2013–) eine der beiden Hauptrollen. In gewisser Weise ist „Gracepoint“ eine amerikanische Variante, manche mögen sagen: eine Kopie, des britischen „Broadchurch“: Auch dort geht es um einen ermordeten Jungen in einem Küstenort und die soziale Dynamik, die aus diesem Vorfall erwächst.

Ein Mann wie ein Messer

Das Moment, aus dem sich die elektrisierte Spannung zwischen beiden Charakteren, zwischen Carver und Miller, ergibt, ist gleich in der ersten Episode, im Beginn ihrer Zusammenarbeit angelegt. Denn Carver bekommt die Stelle, die eigentlich Miller anzutreten gehofft hat. Die gute Laune, mit der sie an jenem Morgen nach der Rückkehr aus einem Kurzurlaub ihr Büro betreten und ihre Kolleginnen und Kollegen begrüßt hat, verfliegt urplötzlich, als ihr Carver – ein Fremder – vorgesetzt wird. Ist es Carvers größere Erfahrung, wie ihr als Begründung gesagt wird, oder am Ende doch bloß der chauvinistische Vorbehalt ihres Chefs, eine Frau für die Führungsposition zu bestellen?

Jedenfalls ein rüder Schnitt in Millers Karriereplanung, aber auch in ihren Berufsalltag. Denn Carver hat nichts gemein mit den Arbeits- und Kommunikationsgepflogenheiten der Kleinstadt. Er weigert sich, Miller bei ihrem Vornamen zu nennen, die trauernden Familienmitglieder befragt er mit stoischer Rücksichtslosigkeit, Höflichkeit ist bei ihm eine überflüssige Ansammlung sentimentaler Floskeln. Ellie Miller heißt auch in „Broadchurch“ Ellie Miller, aber Carver heißt dort Alec Hardy. In „Gracepoint“ ist der Name Teil der Charakteristik dieses Protagonisten: Denn „Carver“ bedeutet im Englischen auch „der Schnitzer bzw. das Tranchiermesser“ – und genauso geht der Detective Carver auch vor: Erst schneidet er in Millers Karriere, dann legt er sich wie ein Messer beim Tranchieren eines Bratens über die Stadt, aus deren Gemeinschaft er präzise und unerbittlich Geheimnisse und Lügen herausschneidet.

Insbesondere in den ersten Episoden erscheint Carver als eine professionelle Maschine, hart gegen sich und hart gegen andere. Seiner Mitarbeitern Miller wird er immer wieder überschwängliche, ja gefährliche Empathie vorwerfen. Und mit gnadenloser Erwartung an Disziplin und Effizienz scheucht er die bald übermüdeten Forensik-Experten durch die Gegend, um an unzähligen Orten jede noch so belanglose Spur zu sichern und auszuwerten. Für Carver ist jeder verdächtig, angefangen bei Dannys Vater.

Und es gehört zu einer der Stärken von „Gracepoint“, dass sich Carver im Verlauf der Serie nicht fundamental wandelt, nicht plötzlich zum einfühlsamen Inspektor wird, der den Unsinn und die Übertriebenheit seiner vorherigen Härte einsieht oder mit einem Mal beginnt, sich gemäß seines sich zusehends verschlechternden Gesundheitszustands zu verhalten. Überhaupt spielen sich die besten Szenen eigentlich immer zwischen Miller und Carver ab. Beiden zuzusehen, wie sie sich gegenseitig ihre Schwächen vorführen, den jeweils anderen in bestimmten Situationen einfach ins Leere laufen lassen – das ist schon ungemein unterhaltsam und macht „Gracepoint“ allein bereits sehenswert.

Die Brillanz der Trauer

Die schauspielerischen Leistungen sind erhaben: David Tennant spielt einen Mann, der eine Energie abruft, über die er eigentlich gar nicht mehr verfügt. Mehrfach tapst dieser perfektionistische Cop in großartigen Dialogen in persönliche Debakel. Anna Gunn indes stellt die ständigen Wechsel von pflichtbewusster Ermittlerin, besorgter Mutter und mitleidvoller Freundin der trauernden Familie überaus glaubhaft dar – nichts an ihren Gesten oder ihrer Mimik wirkt überzogen, unecht. Ungewohnt glaubwürdig sind aber auch ganz allgemein etliche Szenen; etwa wenn Dannys Familie die Bestätigung erhält, dass der geliebte Sohn und Bruder das Opfer eines Mordes ist. Dieser grauenvolle Moment erscheint durch die statische, lange filmende Kamera wie eine Ewigkeit – in diesem Moment ist nichts als Trauer. Die Drangsal ob des verlorenen Kindes wird sich nicht einfach auflösen, und die Serie macht deutlich, dass auch eine erfolgreiche Suche nach dem Mörder und eine anschließende Bestrafung den Verlust nicht mildern, geschweige denn kompensieren werden. So traurig der Inhalt der Szenen, so brillant sind sie gespielt.

Die Suche nach dem Täter: Sie ist von Beginn an eine Jagd, ein schwieriges Unterfangen unter großem Zeitdruck und großer Ungewissheit. Massenmedien aus der benachbarten Metropole San Francisco wenden ihren Blick zur Kleinstadt, zu dem Urlaubsort, in dem ein Kindermörder sein Unwesen treibt. Gleichzeitig offenbaren sich durch die Ermittlungsarbeiten kleine Familiendramen, werden tragische Schicksale ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt, Freunde werden zu Feinden, Ehen drohen kaputtzugehen. Die akribische Untersuchung von Miller und Carver fordert am Ende eine Menge sozialer Kollateralschäden.

Die andere Stärke von „Gracepoint“ liegt natürlich darin, bis zum Schluss mit keiner Gewissheit sagen zu können, wer der Mörder ist und auf welche Weise Danny sein Leben überhaupt verloren hat. Jeder noch so unscheinbare oder noch so verdächtige Blick lässt sich gleichermaßen deuten. Immer wieder kursiert ein sexuelles Motiv: Ist der Pfarrer, in dessen Obhut die Kinder eine Zeit lang standen, pädophil? Ist der alte Mann, mit dem die Kinder das Meer und die Küstentiere beobachten, pädophil? War es ein sonderbarer Wanderer, der im Umkreis der Kinder haltmachte? Für etliche der gezeigten Figuren werden sich bis zum Schluss eine ganze Menge Indizien angesammelt haben, die eine Schuld plausibel begründen würden. Viele werden in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen, entlassen und wieder aufgenommen worden sein, ehe sich das Geheimnis dann lüftet – ebenfalls ein ganz starker Moment dieser Miniserie. Bis dahin sind es zwar nur zehn Folgen. Aber die verleiten zum Binge Watching.

Text verfasst von: Robert Lorenz