Filmtipp

Das Privatleben des Sherlock Holmes (1970)

Kurzbeschreibung: Billy Wilders frivole Sherlock-Holmes-Adaption brilliert mit zweideutigem Wortwitz und bricht gnadenlos mit den gesellschaftlichen Tabus der 1950er und 1960er Jahre.

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Gewiss, ein verlockendes Angebot, die Stradivari. Aber reicht es, um Sherlock Holmes, den berühmten (vielleicht berühmtesten) Privatdekektiv zu einer Scheinehe zu überreden? Das zumindest versucht die russische Balletttänzerin Madame Petrova (gespielt von Tamara Tourmanova, einer echten Ballerina): Sie sucht einen Ehegatten, noch viel eher: einen Erzeuger für ihr Kind – und der soll intellektuell gut bestückt sein. Vorgeblich, wie er später sagt, um nicht ihre Gefühle zu verletzen, vermutlich aber aus Angst vor dem Temperament der Diva, gibt Holmes kurzerhand vor, dass Frauen „not his glass of tea“ seien und er seit einigen Jahren glücklich mit Watson zusammenlebe. Der Junggeselle Holmes also insgeheim – wie Zeit es gebietet – ein Homosexueller?, denkt sich die Petrova. Jedenfalls verbreitet ihr Adlat diese Vermutung nur Augenblicke später im angrenzenden Saal, in dem eine ausgelassene Feier tobt, als Tatsache.

Dort tanzt gerade Watson, in grenzenloser Heiterkeit, mit einem ganzen Schlag russischer Ballerinas. Während er lüstern mit seinem Gehstock an ihren Hinterteilen herumstochert, ihre „lovely po-pos“ lobt und ein famoses Tanzbein schwingt, verbreitet sich über eine Tuschelkette die Nachricht von Watsons angeblicher Homosexualität so schnell, dass die Balletttänzerinnen mit einem Mal die Tanzfläche verlassen haben – aber die russische Ballettgesellschaft ist nicht homophob, ganz im Gegenteil: Ehe sich Watson versieht, haben sich hochgewachsene Tänzer zu ihm gesellt. Eine Geste der Gastfreundschaft und der Toleranz: „Come. No need to be bashful. We’re not bourgeois.“ Auch Pavel und Mischa, Boris und Dimitry oder Illya und Sergei hätten ja letztlich zueinandergefunden – wobei Sergei „half and half“ sei.

Dr. Watson (gespielt von Colin Blakely) tanzt mit russischen Ballerinas.

Dieser Sherlock-Holmes-Film ist keine gewöhnliche Adaption des Krimiklassikers. Billy Wilders Version ist voller sexueller Anspielungen und zeigt Holmes als Junkie, der mit seinem Drogenbesteck im Zimmer verschwindet, verfolgt von Watsons strafenden Blicken – in die „Schwanensee“-Aufführung, durch die Holmes auf Madame Petrova traf, sind sie nur gegangen, um Holmes’ Kokainkonsum wenigstens für kurze Zeit auszusetzen. Und der Film ist großartig besetzt: Robert Stephens spielt die Titelfigur, nicht als übertrieben genialen Kopf, aber auch nicht albern oder gar lächerlich. Auch Colin Blakely gelingt, seinen Watson nicht zu einem Sidekick verkommen zu lassen. Geneviève Page tritt auf als die mysteriöse Gabrielle Valladon, die plötzlich in der Baker Street auftaucht und vorgibt, ihren vermissten Mann zu suchen – und Holmes aus dessen Lethargie reißt, ihn elektrisiert, sodass der sich zu neuem Tatendrang steigert und am Ende einen Spionagekomplott aufdeckt. Das kleine Highlight ist jedoch „Dracula“-Ikone Christopher Lee, der schon 1962 selbst in der Rolle des Sherlock unterwegs gewesen war und ihn in den frühen Neunzigern noch zweimal in TV-Filmen spielen sollte, der hier den geheimnisvollen Staatsdiener Mycroft Holmes spielt, der seinen Bruder in den elitären Hallen des „Diogenes Club“ empfängt – und ihn von dessen Recherchen abbringen will.

Sherlock Holmes, Gabrielle Valladon und Dr. Watson im Gespräch mit einem Bahnhofsmitarbeiter an einem Bahnsteig.

Natürlich lässt sich Holmes von den Drohungen seines Bruders lediglich beflügeln; und natürlich hegt Madame Valladon geheime Absichten. Von London geht es dann in die schottischen Highlands nach Inverness, wo Holmes, Watson und Valladon fies dreinblickenden Kleinwüchsigen und dämonischen Mönchen begegnen. Wilders Film zeigt vor allem die tragische Kehrseite von Holmes’ Genialität, derentwegen er jeglichen Sexlebens entsagt und die ihn zu einem Soziopathen werden lässt. Aus der unerschütterlichen Selbstüberzeugung, nach noch so strapaziöser Gedankenarbeit letztlich zur überlegenen Lösung zu gelangen, erwächst eine gefährliche, selbstzerstörerische Sucht nach Ruhm und Bestätigung – ein Egoismus, der ihn keine Sekunde zögern lässt, die nationale Sicherheit seinem Erfolgsstreben unterzuordnen. Tolle Szenen, frivole Dialoge und ein Auftritt von Mollie Maureen als Queen Victoria machen „The Private Life of Sherlock Holmes“ (Originaltitel) zu einem unterschätzten, durch sein Alter vielleicht sogar zum Vorteil gereiften Film.

Text verfasst von: Robert Lorenz