Filmtipp

Elmer Gantry (1960)

Kurzbeschreibung: Für seine Rolle als Elmer Gantry erhielt Burt Lancaster einen „Oscar“. Und diese Auszeichnung rechtfertigt er in jeder Szene – denn Lancaster spielt hier wie in Ekstase. Gantry ist ein Handlungsreisender, eigentlich ein Betrüger. Aber mit seinen Bibelkenntnissen und einer emphatischen Rhetorik avanciert er zum erfolgreichen Wanderprediger, dem sich die Menschen in Ekstase hingeben.

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Elmer Gantry ist ein Überlebenskünstler, ständig auf seine Improvisationsfähigkeiten angewiesen, um sich aus heiklen Situationen zu winden. Jedes Mal, wenn sich eine Bredouille anbahnt, legt Gantry sein breites Grinsen auf und erzählt genau das, was sein Gegenüber gerade hören will. Am Weihnachtstag telefoniert er mit seiner Mutter und fragt, wie ihr sein Geschenk gefallen habe – das er natürlich nie abgeschickt hat, das aber dennoch auf dem Postweg abhandengekommen sein muss. Mitunter ist Gantry derart charmant, dass sogar der Krämerladenbesitzer, dem er mehrere bislang unverkaufte Staubsauger aufgeschwatzt hat, für Gantrys leidlich seriöse Verkaufsversuche immerhin noch ein Lächeln parat hält. Und wenn Worte nicht mehr helfen, kann Gantry notfalls auch harte Hiebe austeilen.

Und so tingelt Gantry ziel- und heimatlos als Handlungsreisender durch den Mittleren Westen der 1920er Jahre. An Heiligabend trinkt er in einer Bar mit einer einsamen Frau Schnaps und verbringt mit ihr die Nacht. Morgens stiehlt er sich unbemerkt davon; auf den Spiegel einer Kommode kritzelt er mit ihrem Lippenstift noch schnell den Weihnachtsgruß „merry Xmas“. Dann springt er auf einen Frachtzug – später eine beliebte Beförderungsmethode während der amerikanischen Depressionszeit –, auf dem er sich in einer Schlägerei gegen eine Gruppe von Gelegenheitsarbeitern behauptet, die ihn im Schlaf seiner Wertsachen berauben wollen. Auch für sie legt er am Ende das Gantry-Lächeln auf, ehe er sich mitsamt Gepäck aus dem fahrenden Zug stürzt. Ramponiert trifft er in einer Kleinstadt ein und geht in die Kirche einer Schwarzengemeinde. Hier kommt es zu einer ergreifenden Szene: Als mit dem Eintritt des verlotterten Weißen der lautstarke Gospelchor mit einem Male verstummt, stellt sich Gantry einfach mitten in die Gruppe und schmettert aus voller Kehle die Liedzeile: „Had a mighty hard time. But I’m on my way“, woraufhin auch alle anderen miteinstimmen.

Überhaupt ist Gantry bei Kirchenliedern ungemein textsicher und so bibelfest, dass er selbst den Papst in Verlegenheit bringen könnte. Mit dieser Eigenschaft scheint ihm eine neue Karriere bevorzustehen, als er auf Schwester Sharon Falconer (Jean Simmons Info-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

Jean Simmons, die gebürtig aus London stammt, erhielt für ihre Rolle als beseelte Wanderpredigerin 1961 eine „Golden Globe“-Nominierung. Gewonnen hatte sie eine solche Trophäe bereits drei Jahre zuvor, 1958 als „vielseitigste Schauspielerin“. Da war Simmons gerade erst 29 Jahre alt gewesen. 1953 spielte sie an der Seite von Richard Burton (1925–84) in dem Monumentalstreifen „Das Gewand“ – dem ersten Film im „CinemaScope“-Kinoformat. Auch dieses in der römischen Antike angesiedelte Werk befasste sich mit christlicher Theologie, Simmons’ Charakter stand darin vor der Entscheidung, zum Christentum zu konvertieren und damit aus dem römischen Establishment verstoßen zu werden. 1960, ein Jahr vor „Elmer Gantry“, trat sie in Stanley Kubricks (1928–99) ebenfalls monumentalem „Spartacus“ auf, in dem Kirk Douglas in unvergesslich heroischer Pose die Hauptrolle des gegen Rom gewandten Rebellenführers spielte. Als sie „Elmer Gantry“ drehte, hatte sich Simmons gerade von Stewart Granger (1913–93) scheiden lassen – ihr neuer Partner war „Elmer Gantry“-Regisseur Richard Brooks (1912–92).

), eine angeblich durch Gott berufene Laienpredigerin, und deren Team trifft. Falconer und ihr misstrauischer Geschäftspartner William L. Morgan (Dean Jagger) bereisen die Provinz und errichten am Rand von Kleinstädten des „Bible Belt“ ein zirkusähnliches Zelt, in dem sie minutiös choreografierte Zeremonien abhalten. Am Ende dieser „Revivals“, durch welche die Menschen ihre Religiosität wiederentdecken und zu regelmäßigen Gottesdienstbesuchern diszipliniert werden sollen, sammeln die Veranstalter in Blecheimern kleine Spenden ein. Beeindruckt von Gantrys Redekünsten lassen sie ihn in ihrem Predigtzelt auftreten. Gantry und Schwester Falconer, die in Wirklichkeit ganz anders heißt, bilden ein famoses Team, das nur durch einen Unterschied getrennt wird: Während Gantry die Bibeltexte und den Glauben der Menschen ausnutzt, um sich zum bejubelten Prediger aufzuschwingen, ist Schwester Falconer vom Gedanken durchdrungen, in göttlicher Mission zu handeln. So wehrt sie Gantrys Avancen schließlich mit der Begründung ab, Gott habe ihn als ihr Instrument, nicht als ihren Liebhaber gesandt.

Insgeheim ist aber auch sie fasziniert von Gantrys Auftritt, von dessen präziser Situationsanalyse und seiner rhetorischen Emphase, mit der er sein Auditorium vereinnahmt. Unter dem Einfluss von Gantrys Worten steigern sich die Menschen in Ekstase, heulen wie Wölfe, stürzen auf ihre Knie, flehen ihn um Hilfe an. Dann reißt er sich sein Sakko vom Leib und nimmt sich mit hochgekrempelten Ärmeln den Menschen an, die sich von ihrem Besuch im Kirchenzelt spirituelle Erlösung ersehnen. Ihnen macht er ein schlechtes Gewissen, auf dass sie auch ja wiederkommen: „You can’t go to church on Sunday and cheat at business on Monday.“

Was „Elmer Gantry“, die Verfilmung des kontroversen Romans von Sinclair Lewis, auszeichnet, sind nicht allein Burt Lancasters furiose Darstellung des charismatischen Manipulators oder der durchaus unkonventionelle Handlungsrahmen. Vielmehr trifft der Film einige, besonders aus heutiger Sicht, interessante Aussagen über Gesellschaft und Kultur. Zum einen über die Vereinigten Staaten in den 1920er Jahren, in denen die Handlung spielt: Hier wird die bigotte Provinzbevölkerung des unendlich großen Mittleren Westens porträtiert; eine Gesellschaft, die große Stücke auf ihre Normen hält, denen sie im Alltag freilich ständig zuwiderhandelt. Kaum, dass Zweifel an Gantrys moralischer Integrität aufkommen, erntet er nicht bloß Kritik, sondern die vormaligen Besucher seines Gottesdiensts, die im ihm eben noch frenetisch zugejubelt haben, verwandeln sich in einen gewalttätigen Mob, dessen Zerstörungswut ungeahnte Ausmaße annimmt. Und einen Kirchenvorstand, der sich nach außen als Hüter überlegener Moral gibt, kann Gantry nur deshalb dreist erpressen, weil er ihn bei einer illegalen Pokerrunde im verrauchten Hinterzimmer ertappt hat. Gezeigt wird auch das Rotlichtmilieu in Gestalt eines Bordells, das die von Gantry aufgewiegelten Kleinstadtbewohner in Rage zertrümmern – aber doch auch z.T. mitfinanziert haben. Dort herrscht eine durchmischte Atmosphäre aus rührseliger Solidarität zwischen den Prostituierten und Gewalt, Erpressung, Ausnutzung.

Veranschaulicht wird auch der wachsende Einfluss von Massenmedien für die Meinungsbildung der Menschen: Nachdem der Journalist Jim Lefferts (Arthur Kennedy, einer von Hollywoods Edel-Nebendarstellern Info-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

Arthur Kennedy (1914–90) ist einer der Hollywood-Darsteller, die nie in die erste Reihe vordrangen, aber zu den Edelmimen für die Nebenrollen avancierten; als er 1960 in „Elmer Gantry“ mitspielte, war er bereits fünfmal für einen „Oscar“ nominiert gewesen.

) in einer vielbeachteten Zeitungsreportage messerscharf den Scharlatanismus von Gantrys Show offengelegt hat, kontert Gantry mit einer wöchentlichen Radiosendung, in der er eine erfolgreiche Gegenpropaganda startet. Auflagenstarke Tageszeitungen sind es dann auch, die mit einem Mal drohen, Gantrys Karriere zu ruinieren und dadurch zeigen, dass sie mit wenigen Schlagzeilen berufliche Existenzen auslöschen können.

In einer anderen Szene bietet Gantryvor versammeltem Publikum einen Schimpansen auf, um im Sinne des Kreationismus die Evolutionstheorie lächerlich zu machen („Well, he might be Darwin’s uncle, but he certainly ain’t yours or mine.“) – ein Konflikt, der noch heute aktuell ist. Überhaupt die Beziehung der Menschen zu Kirche und Glauben: Nachdem sich die phänomenale Performance von Falconer und Gantry herumgesprochen hat, werden die beiden nach Zenith gerufen. Die Männer des dortigen Kirchenvorstands beklagen chronisch leere Gotteshäuser – Gantry verspricht ihnen, dass Schwester Falconer die Kirchen wieder füllen werde. Noch während er diese tollkühne Prognose ausspricht, verteilt Falconers Manager an die Kirchenleute aktuelle Statistiken aus Orten, in denen die Predigerin bereits aufgetreten ist, um das Erfolgsversprechen ihres Verkaufsmodells zu untermauern. Daraufhin werden, nun ganz im Marketing, kritische Fragen zu Conversion Rates gestellt – also welche Kundenbindung denn daraus entstehe. Um ihr Salär zu rechtfertigen, zählt Schwester Falconer sodann minutiös die Kosten auf, den der logistische Aufwand ihrer Show verursache: LKW-Transporte, Bahnreisen, Rechnungen für Verpflegung, Werbung, Versicherungen und Hotels.

Was sich hier abspielt, ist nichts anderes als ein Geschäftstreffen – die Kirche als business as usual. Das bringt dann auch einer der Kirchenvorstände auf den Punkt: Die Leute würden Sportveranstaltungen und Wettrennen besuchen; man stehe heute im Wettbewerb mit der Entertainmentbranche, also müsse man selbst eigene Unterhaltung anbieten. Und weil der ortsansässige Pfarrer diese offenbar nicht zu leisten vermag, müsse sie eben extern eingekauft werden.

Im Grunde wird hier vorweggenommen, was Großorganisationen in der postindustriellen Krise später tatsächlich sehr häufig taten: Gewerkschaften und Parteien, die wie Kirchen in den 1970er Jahren unter beträchtlichem Mitgliederschwund zu leiden begannen, immer stärker den Anschluss an die Gesellschaftsentwicklung verloren und irgendwann in den 1980er Jahren dann drastische Mitliederverluste verzeichneten, reagierten in ähnlicher Weise. In Österreich und der Bundesrepublik, wo diese Organisationsformen lange Zeit ein Erfolgsmodell bildeten und nach dem Zweiten Weltkrieg millionenschwere Mitgliedschaften aufgebaut hatten, suchten die Führungsleute ihre Rettung im Ausbau von Serviceleistungen und in verstärktem Marketing; darin sahen sie eine geeignete Anpassung an die neuentstandene Dienstleistungsgesellschaft. Die weltanschauliche Fundierung ihrer Arbeit ging in Parteien und Gewerkschaften darüber deutlich zurück, damit aber auch Leidenschaft und Engagement an der Basis. Und auch in „Elmer Gantry“ fragt dann am Ende der Besprechung im Kirchenvorstand eines der Mitglieder beschwörend: Wo ist der Unterschied zum Entertainment? „It’s up to us to make a success out of Christianity, keep the churches full. Christianity is a going concern, a successful international enterprise.“

Natürlich lassen sich die verzweifelten Kirchenleute am Ende von Gantrys Verheißungen verführen und engagieren ihn und Schwester Falconer, um das große „Revival“ zu veranstalten. Nun ist es an Gantry und Falconer, die religiöse Leidenschaft der Menschen von Zenith zu entfachen und die Kirche in einen Mitgliedermagneten zu verwandeln.

Der zweite gesellschaftskulturelle Aspekt an „Elmer Gantry“ ist der zeitgenössische Umgang mit Sexualität, zu Beginn der 1960er Jahre. Mag man sich diese Zeit im Rückblick als verklemmt und konservativ vorstellen, ist davon in „Elmer Gantry“ wenig zu spüren. Mehrfach wird deutlich auf Sex – und zwar nicht als aufgezwungene Fortpflanzungsmethode, sondern als Vehikel hedonistischen Lustgewinns – Bezug genommen. Als die Prostituierte Lulu Baines (Shirley Jones Info-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

Für ihre Darstellung der Pfarrerstochter aus Kansas, die sich von ihrem Ex-Liebhaber Gantry in die Prostitution getrieben sieht und auf Rache sinnt, erhielt Shirley Jones 1961 den „Oscar“ für die beste weibliche Nebenrolle. Anschließend hatte sie dank ihrer Stimme Erfolg in Musicals, in den Siebzigern ging sie zum Fernsehen, wo sie als Shirley Renfrew Partridge, der Kopf der Partridge Familie“ (1970–74) – die auch in Deutschland im Vorabendprogramm der ARD große Beliebtheit erlangte – zu einer TV-Ikone avancierte.

) ihren Bordellkolleginnen von ihrer jugendlichen Affäre mit Gantry erzählt, geschieht das in wenig verklausulierten Sätzen: „Oh, he gave me special instructions back of the pulpit of Christmas Eve. He got to howlin’ ‚Repent. Repent!‘ And I got to moanin’ ‚Save me. Save me.‘“ Um dann zu schließen mit: „He rammed the fear of God into me so fast I never heard my old man’s footsteps.“ Noch deutlicher formuliert es Burt Lancaster im Trailer zum Kinofilm: Im Kostüm seines Elmer Gantry bringt er seinen Charakter auf den Punkt: „He’s interested in money, sex and religion.“ Als er das Wort „Sex“ ausspricht, zieht sich das Gantry-Lächeln über sein Gesicht.

Text verfasst von: Robert Lorenz