Der Morgen danach (1986)
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„What the fuck?“ Das sind die Worte einer Alkoholikerin nach dem Aufwachen. Sie stammen von Alex Sternbergen (Jane Fonda), einer Schauspielerin, deren Karriere vor allem an ihr selbst gescheitert ist. Erst letzte Nacht hat sie im Suff eine mögliche Auftraggeberin vergrault. Aber daran kann sie sich nicht mehr erinnern. Ebenso wenig, wer der Kerl in Leoparden-Unterwäsche neben ihr im Bett ist. Aber die Frage: „What the Fuck?“, gilt diesmal nicht ihrem Aufwach-Kater, sondern dem blutverschmierten Bettlaken. Eine Horror-Vorstellung wird für Sternbergen zur Realität und stellt mit einem Mal sämtliche Abgründe der „Hangover“-Trilogie in den Schatten: Morgens im Bett mit einer Leiche, in der ein Messer steckt und bei der man nicht die leiseste Ahnung hat, wie sie dorthin gekommen und ob man selbst der Mörder ist. In einer solchen Situation stehen nicht viele Optionen zur Verfügung.
Aber was macht Sternbergen, die in der Öffentlichkeit unter dem überdrehten Pseudonym Viveca Van Loren auftritt? Sie wickelt den blutverschmierten Leichnam in das Bettzeug und beginnt mit einer abenteuerlichen Putzaktion, in der sie den gesamten Künstler-Loft, in dem sie ahnungslos erwacht ist, reinigt – in der verzweifelten Hoffnung, damit sämtliche ihrer Spuren zu verwischen und das Ganze irgendwie ungeschehen zu machen. All das Blut, all die Fingerabdrücke. Anschließend packt sie ihre Sachen und stürmt zum Flughafen. Die Polizei alarmiert sie nicht; zu sehr fürchtet sie, das Opfer ihrer Vergangenheit zu werden: Denn vor Jahren saß sie im Gefängnis wegen einer Messerattacke auf ihren ersten Ehemann, während einem ihrer Blackouts. Hat Viveca Van Loren aka Alex Sternbergen also ihren One-Night-Stand gemeuchelt?
Sternbergen ist eine Schauspielerin, deren beste Tage weit zurückliegen, die aber noch immer genug Klasse besitzt, um Männer in ihren Bann zu ziehen, aber im Kontakt mit Alkohol binnen kürzester Zeit alle Sympathie zunichtemachen kann. Und Jane Fonda spielt diese desolate Furie großartig: Erst bezirzt sie mit dem Charme der verplanten Aktrice den Ex-Cop Turner Kendall (Jeff Bridges), verbringt mit ihm eine romantische Nacht, um ihn am nächsten Morgen mit einer heftigen Wodka-Fahne in Grund und Boden zu schreien. Blackouts nach Schnapseskapaden gehören zu Sternbergens Alltag wie das Zähneputzen; unterwegs stillt sie ihren Alkoholdurst notfalls mit Dosenbier. Ausgerüstet mit den obligatorischen Utensilien der verlebten Diva – einer Zigarette und einem Wodka-Glas – stolpert Fonda so virtuos durch diesen Thriller, dass sie die Academy damals zum siebten Mal mit einer „Oscar“-Nominierung würdigte (gewonnen hatte sie die Statue bereits 1972 und 1979).
Jeff Bridges steht zwar im Schatten dieser Performance; aber auch er liefert eine bestechende Darstellung ab – denn ob er Gutes oder Böses im Schilde führt, bleibt wie bei seiner Rolle in „Jagged Edge/Das Messer“ (1985) bis zuletzt unklar. Bridges’ Figur Turner Kendall gehört zwar nicht wie Alex Sternbergen zu L.A.s Glamourgesellschaft; aber er ist ein ungewöhnlicher Typ, der in einer Wellblechbaracke voller offenliegender Rigips-Wände wohnt und wie in einer stilistischen Vorwegnahme von Bridges’ späterem „Dude“ in „The Big Lebowski“ (1998) in einem abgewrackten 1956er Chevy „Bel Air“ durch die Straßen von L.A. cruist. In seiner Wohnung häuft er billig erworbene Bücher an, die er nicht liest, weil er seine Zeit damit verbringt, Technik-Müll zu reparieren. Der Bastler und die Diva – trotz offenkundiger Unterschiede verbindet sie etwas. Gegenseitig helfen sie sich aus der sozialen Kälte im hitzigen Klima der sonnigen Westküstenmetropole.
Während Sternbergen in der Presse bereits als Mörderin gehandelt wird und sich hinter einer Sonnenbrille versteckt, reaktiviert Kendall seine alten Kontakte zur Polizei, um sich über die Ermittlungen zu informieren. Die hohe Kunst des Thrillers besteht ja darin, Identität und Motiv des Mörders solange wie möglich offen zu lassen. Das ist Sidney Lumet (1924–2011) zum Glück gelungen
An den Kinokassen floppte der Film allerdings und zählt deshalb zu Lumets Phase, in der seine Werke weit hinter den kommerziellen Erwartungen zurückblieben (so etwa die Tragikomödie „Die Göttliche“ von 1984 oder der Politthriller „Power – Der Weg zum Ruhm“ von 1986).
. Überhaupt Lumet: Der Regiebolide drehte zwar zahllose Filme, aber ein Mann Hollywoods war er nie so recht. Lumet lebte in New York, machte Filme in und über New York, den „Oscar“ bekam er, wenige Jahre vor seinem Tod, 2005 in der oft als Gnadenbrot der Academy gesehenen Variante eines „Honorary Award“.
„Der Morgen danach“ wirkt manchmal, als habe Lumet in L.A. Urlaub gemacht und seine Filmkamera mitgenommen. Herausgekommen sind dabei grandiose Einstellungen: Oft lassen Lumet und sein polnischer Kameramann Andrzej Bartkowiak ein ganzes Gebäude anvisieren, das von der kalifornischen Sonne angestrahlt wird und in dessen Schattenwurf dann die Protagonistin entlangläuft. Dann wieder postiert er die Kamera in der Ecke eines Lofts, um den gesamten Raum einzufangen, in dem die gezeigte Person wie ein unbedeutendes Detail wirkt. Manche Szenen sind derart in übersättigte Farben getaucht, dass sie einen angenehmen Kontrast zu den Kunstlicht-Appartements bilden. Bisweilen entstehen dabei Aufnahmen, die sich wie monumentale Gemälde über den Bildschirm legen.
Seine Reize bezieht der Film weniger aus seiner Handlung als aus seinen Bildern und Dialogen. Aber auch so trägt die zentrale Frage: „What the fuck?“
TextRobert Lorenz
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