Filmtipp

The Shout (1978)

Kurzbeschreibung: Alan Bates spielt auf genial-diabolische Art einen mysteriösen Mann, unterwiesen in okkulten Praktiken des australischen Outback, der mit seiner unheilvollen Präsenz mutwillig das Leben eines englischen Ehepaars zerstört. Der Todesschrei selbst ist eine beeindruckende Szene.

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Ein altenglisches Gemäuer, umgeben von akkurat gepflegtem Rasen – ein Idyll an der Südwestküste der britischen Insel. Das herrschaftliche Anwesen ist ein Heim für psychisch Kranke, hier beginnt „The Shout“ am Ende seiner Handlung. Für den Zuschauer erschließt sich nicht, wer die im Essenssaal aufgebahrten Leichen sind, genauso wenig, wer dort Insasse ist und wer zum Personal oder den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes gehört. Denn alle sind sie zusammengekommen auf einer ausgedehnten Wiese zu einem gemeinsamen Cricket-Match. Einer der Patienten, der als Punktezähler abkommandiert worden ist, nutzt das Spiel als Gelegenheit, einem anderen Punktezähler, der als Gast angereist ist, von einer Geschichte zu erzählen, die in jedem Detail wahr sei. Was dann erzählt wird, ist absonderlich, verstörend, surreal. Und es ist die Erklärung für die leblosen Körper im Speisesaal der Institution.

Dieser Rückblick ist Kern des Films, erst in den letzten Minuten geht es wieder zurück in die Heilungsstätte, zum Cricket-Match. Ganz harmlos nehmen die Geschehnisse ihren Lauf, als der Tontechniker und Komponist Anthony Fielding (John Hurt), der mit seiner Frau Rachel (Susannah York) in einem kleinen Haus an der Küste lebt – nahe der Seelenklinik – und dort in seinem improvisierten Tonstudio mit originellen Klangaufnahmen experimentiert, nach seinem sonntäglichen Orgelspiel in der Kirche einem Fremden begegnet. Dieser Mann im schwarzen Mantel, Charles Crossley (Alan Bates), der an einer alten Steinmauer lungert, bekundet, seit mehreren Tagen nichts gegessen zu haben, und lädt sich kurzerhand selbst zum Sonntagsmal zu den Fieldings ein. Weil Anthony Fielding kein schlechter Mensch ist, nimmt er den Fremden mit nach Hause.

Dieser vorbildliche Akt zwischenmenschlicher Solidarität wird sich als verhängnisvolle Fehlentscheidung erweisen. Aber das kann Fielding natürlich nicht wissen. Sein ominöser Gast gibt vor, 18 Jahre im australischen Outback gelebt zu haben und während dieser Zeit in okkulten Aborigines-Bräuchen unterwiesen worden zu sein. Mit Gegenständen könne er die Seele von Menschen kontrollieren. Auch gibt er vor, einen Schrei zu beherrschen, der alle Lebewesen im nahen Umkreis mit einem Mal töten könne. Er könne diesen Schrei daher, verständlicherweise, nicht vorführen. Aber er beherrsche ihn. Außerdem habe er seine Kinder getötet – denn dies sei der einzige Tod, der von den Aborigines respektiert werde, und schließlich habe er vor seiner Abreise nichts zurücklassen wollen.

Ob Schrei oder Kindsmord – Anthony und Rachel Fielding werten diese Erzählungen offenbar als Gruselgeschichten und Fantastereien. Sie werden sich im Verlauf des Films als wahr erweisen, übersteigen aber die Vorstellungskraft des Ehepaares. Denn die Polizei alarmieren die Fieldings nicht und Anthony, der Sound-Liebhaber und Tonakrobat, den Laute jeglicher Art faszinieren, ist neugierig geworden und will sich den angeblich tödlichen Schrei vorführen lassen – notfalls mit Watte in den Ohren. Also stapfen sie in der Frühe eines Morgens los, Fielding und Crossley, durchqueren eine Landschaft, die mit ihren Sanddünen und Felsglacis so gar nicht nach England aussieht und tatsächlich an australische Gefilde erinnert (gedreht wurde aber in der Tat in Devon, an der englischen Südwestküste).

Man fragt sich in diesem Moment, wie das Filmteam wohl jemals diesen Schrei umsetzen könnte, ohne ihn angesichts der geschürten Erwartung an diese Szene enttäuschend, gar lächerlich wirken zu lassen. Und dann kommt sie, diese grandiose Aufnahme, in der Alan Bates im Angesicht des atlantischen Ozeans auf den Dünen von Saunton Sands zu seinem Schrei ansetzt – ja ausholt –, ihn ausstößt und all seine Drohungen sich als wahr erweisen – eine überwältigende Einstellung, ein audiovisuelles Kunstwerk, dessentwegen allein man sich schon diesen Film nicht entgehen lassen sollte. Als Crossley den Mund nicht öffnet, sondern weit aufreißt, einem wilden Raubtier oder schrecklichen Ungeheuer gleich, kann man Alan Bates’ goldene Zahnsurrogate und vakante Gebissstellen betrachten – spätestens wenn man sich diese eindrückliche Szene noch ein, zwei weitere Mal anschaut.

Überhaupt Alan Bates: In Liebende Frauen“ (1969) (Review auf Filmkuratorium.de lesen) spielte er einen bisexuellen Intellektuellen, in dessen Rolle er sich auf einem Bärenfell vor flackernden Kaminflammen ein Nacktwrestling mit seinem Ko-Darsteller Oliver Reed lieferte. Hier, fast zehn Jahre später, sieht Bates nicht mehr ganz so filigran und jugendlich aus. Und das passt zu seiner Figur, diesem lakonischen Fremden, der düstere Geheimnisse mit sich herumträgt, trotz seiner ruhigen und sparsam eingesetzten Bewegungen und Gesten eine aggressive Maskulinität ausstrahlt und mehr als einmal nur durch seinen Blick – ein unfassbares Augenspiel – ungemein furchteinflößend aussieht. So wie Bates in mancher Szene dreinblickt, ist seinem Charakter alles zuzutrauen.

Und tatsächlich ist dieser Crossley ja eine sinistere Gestalt: Er dringt in eine Familie ein, deren Mitglieder er unterwirft und in devote Posen zwingt, deren Mitmenschlichkeit er ausnutzt und erniedrigt. Jede noch so harmlose Bewegung, belanglose Mimik wirkt an ihm unheilvoll. Innerhalb weniger Stunden verliert Anthony Fielding durch die Anwesenheit des remigrierten Landsmannes völlig die Kontrolle über sein Leben; nur kurze Zeit, nachdem er dem Fremden Obdach gewährt hat, muss er mitansehen, wie seine Frau am Esstisch kniet und dem dort speisenden Crossley die Hand abküsst. In Anthony Fielding hat Crossley für seine magischen Machenschaften ein geeignetes Opfer gefunden; denn aufgrund seines gutherzigen Naturells setzt Fielding der brutalen Alltagsinvasion nichts entgegen, lässt die Dinge geschehen und scheint ihnen hilflos ausgeliefert zu sein.

„The Shout“, der in der deutschen Titelversion etwas treffender, aber zugleich penibler „Der Todesschrei“ heißt, ist ein surrealer, künstlerisch eingefärbter Film. Durch die zurückhaltende Musikbegleitung, viele wort- und fast tonlose Sequenzen, die ausgedehnte Topografie des südenglischen Küstengebiets und ständige Großaufnahmen der Gesichter sind die Szenen in eine dumpfe, beklemmende Atmosphäre getaucht. Und wie es sich für einen solchen Film gehört, erhielt er 1978 auf dem Cannes Filmfestival den Großen Preis der Jury und war zudem für eine Goldene Palme nominiert – ein Triumph für den polnischen Regisseur Jerzy Skolimowski, der ihn gedreht hatte.

Die Geschichte, die aus der Feder des englischen Schriftstellers Robert Graves (1895–1985) stammt, spielt mit dem Gedanken, die mutmaßliche Existenz schwarzer Magie als reale Gegebenheit anzunehmen, und platziert einen selbsterklärten Meister dieser Zauberkunst inmitten einer christlichen Gesellschaft, im Haus eines Mannes zumal, der als ehrenamtlicher Organist einen regelmäßigen Beitrag zum Gemeindeleben der anglikanischen Kirche leistet. Skolimowskis Adaption ist – so muss man sagen – grandios besetzt, nicht nur mit Alan Bates, sondern auch mit Susannah York und John Hurt. Letzterer spielte ein Jahr später in „Alien“ (1979) – darin erging es seiner Filmfigur freilich noch schlechter.

Text verfasst von: Robert Lorenz