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Grantchester (2014–)

Kurzbeschreibung: Die Krimi-Serie versetzt uns in die englische Grafschaft Cambridgeshire in den frühen 1950er Jahren. Dort freundet sich ein junger Pfarrer mit einem älteren Polizeikommissar an – gemeinsam klären sie mit symbiotischen Stärken komplizierte Mordfälle auf. Der Serie gelingt eine enorm stimmungsvolle Rekonstruktion der damaligen Zeit, mitsamt sympathischen Charakteren.

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So unverwechselbar, wie dieser Stil ist, weiß man sofort, wo man sich befindet. Die Bauweise der Kirche, die Form der Fahrzeuge, selbst die Ziegelgemäuer: Alles deutet auf England hin, denn das angelsächsische Flair lässt sich so leicht nicht von seiner Heimat loslösen. Die – natürlich – britische Serie „Grantchester“ ist im Jahr 1953 angesiedelt und erweckt die gleichnamige Ortschaft im Südwesten von Cambridge zum Leben. Ein schöneres Motiv als die Grafschaft Cambridgeshire nördlich von London hätte man wohl für einen Drehort außerhalb einer englischen Großstadt kaum finden können (ein Besuch via Google Street View lohnt sich).

Diese beschauliche, ja pittoreske Umgebung macht einen großen Teil der besonderen Atmosphäre dieser Serie aus. Die Rahmenhandlung: Der junge Pfarrer einer mittelenglischen Kleinstadt freundet sich mit einem älteren Detective der Polizei an, gemeinsam lösen sie komplizierte Mordfälle. Das Konzept von „Grantchester“, das auf einer erfolgreichen Romanserie des Briten James Runcie basiert, ist schnell erzählt. „It’s Father Brown with attitude, Agatha Christie with Cathedrals, and Barbara Pym with sex. “ – So charakterisiert der Autor sein Werk. Stärker als die verworrenen Pfade, die jedes Mal zur Klärung der Verbrechen beschritten werden müssen, zeichnen indes die Figuren diese Fernsehserie aus.

Ihr Protagonist, Sidney Chambers (James Norton), Kleriker der anglikanischen Kirche, ist nur scheinbar so unbeschwert, wie ihn die Eingangsszene der ersten Episode zeigt, in der er mit einer Freundin beim Picknick am Flussufer herumalbert. Die beiden treffen sich am Wochenende, doch obwohl sie wie ein Bilderbuchpaar romantisch durch die Wiesen spazieren, wird Amanda Kendall (Morven Christie) demnächst heiraten; aber nicht den galanten Sidney, sondern einen Snob, der eigentlich für all das steht, über das sich Amanda und Sidney in vertrauter Zweisamkeit so sarkastisch empören. Glücklich ist Sidney über die Entscheidung seiner besten Freundin also nicht; aber natürlich verbirgt er seine Vorbehalte, willigt am Ende sogar ein, die von ihm missbilligte Trauung vorzunehmen. Bald trifft er jedoch eine Frau, die sich in ihn verliebt – stärker vielleicht als er für sie empfindet.

Über seine vertraulichen Gespräche mit Menschen, die bei ihm geistige Fürsorge suchen, erfährt Sidney von mysteriösen Todesfällen und von Hinweisen, die zu deren Aufklärung beitragen könnten. Gedrängt von Hilfeappellen, aber auch aus Neugier, Gerechtigkeitsdrang und Ehrgeiz beginnt er, eigene Ermittlungen durchzuführen, und trifft so auf den Polizeiinspektor Geordie Keating (Robson Greene). Nach anfänglicher Skepsis freunden sich der zynische Ermittler und der ungewöhnliche Pfarrer an; bald treffen sie sich regelmäßig im Pub, um über dem Backgammonspiel die Pints zu stemmen und sich in klischeehaft männlicher Lakonie über private Probleme auszutauschen – es sind eben die frühen Fünfziger.

Gemeinsam klären Chambers und Keating dort Verbrechen auf, wo beide allein nicht weiterkämen. Keating hat seine Routine, Erfahrung und die polizeiliche Autorität, Chambers fallen kleine, aber oft ausschlaggebende Details auf, die andere übersehen haben. Vor allem aber kann der im göttlichen Auftrag agierende Seelsorger dank seiner klerikalen Autorität und Vertrauenswürdigkeit an Orte und Informationen gelangen, die den Behörden verwehrt bleiben. Sozialwissenschaftlich könnte man darin eine gelungene Symbiose von privater Initiative und staatlicher Zuständigkeit sehen. Wie gesagt macht die Handlung nicht den Charme von „Grantchester“ aus, es sind dessen Charaktere.

Sidney Chambers ist keiner, den man sich auf den ersten Blick als Gemeindepfarrer vorstellen kann. Und das liegt nicht daran, dass er entgegen des Kleriker-Klischees statt Sherry schottischen Whiskey bevorzugt. Chambers ist ein Frauenschwarm, jung, groß, schön. Als solcher erscheint er umso stärker im Kontrast zu seinem Assistenten Leonard Finch (Al Weaver) – einem angehenden Pfarrer, der die Besucher seines Gottesdiensts mit Kant-Zitaten strapaziert, sich immer wieder in philosophischem Kleinklein verliert, einer, der beim Fußball als letzter in eine Mannschaft gewählt wird und mit dem man sich auf einer Party nicht unterhält. Umso mehr gewinnt Finch aber an Sympathie, wenn er seine Unsicherheit nicht hinter Arroganz versteckt und sich in Sidneys düsteren Momenten als freundschaftliche Stütze erweist. Aber die beiden Geistlichen bilden ja auch so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft, wenn sie sich für die Zuschauer amüsante Wortgefechte mit ihrer nach außen hin hartgesottenen, aber natürlich am Ende herzlichen Landlady Mrs. Maguire (Tessa Peake-Jones), einer resoluten Kriegerwitwe, liefern. Nach Benedict Cumberbatch (Sherlock Holmes), Martin Freeman (Dr. John Watson) und Una Stubbs (Mrs. Hudson) aus „Sherlock“ sicherlich eines der launigsten Serien-Dreiergespanne.

Aber wie viele andere damals in der britischen Nachkriegsgesellschaft schleppt Chambers psychische Lasten mit sich herum, die sein gegenwärtiges Leben überschatten. Im Zweiten Weltkrieg hat er an der Westfront gekämpft, hat dort Tod und Leiden gesehen – ein Fehler kostete einem Kameraden das Leben, in Träumen erlebt Chambers diese Situation immer wieder aufs Neue Info-Bubble: zum Anklicken für zusätzliches Filmwissen

Autor Runcie hat seine Romanfigur Sidney Chambers an seinen Vater angelehnt, der in einem Panzerbataillon der Scots Guards diente, seine Karriere in der Kirche in Cambridge begann und Ende der 1970er Jahre zum Archbishop of Canterbury aufstieg.

. „We all have that cross to bear“, sagt sein Kumpel Geordie, der ebenfalls im Krieg war. Das Kriegserlebnis ist latent omnipräsent, in einer Folge geht es um eine Gruppe von Soldaten, die an der Front zu Zeugen eines schlimmen Kriegsverbrechens wurden.

Überhaupt der Krieg: An einigen Stellen zeigen sich die unterdrückten Traumata der Überlebenden, die im Unterschied zum Gros der nachfolgenden Generationen schreckliche Erlebnisse zu verarbeiten hatten. Das gehört zweifelsohne zur besonderen Atmosphäre Großbritanniens in den Fünfzigern, die hier rekonstruiert wird – eines Jahrzehnts, das der heutigen Zeit trotz des großen Abstands schon so viel näher ist als seinen unmittelbar vorangegangenen Dekaden. Im Grantchester des Jahres 1953 würde man vermutlich eher zurechtkommen als in jenem des Jahres 1893. Dieser Zeitabschnitt ist gerade noch modern genug, um Vergleiche mit der aktuellen Gesellschaft zuzulassen; aber seine Betrachtung verdeutlicht doch auch die großen Unterschiede, die noch bestehen, und deutet an, welches Gewicht die damals noch ausstehenden Liberalisierungsschübe doch hatten.

Für die Aufnahmen hat das „Grantchester“-Team die Häuser originalgetreu hergerichtet, mit zeitgenössischem Mobiliar und Gerät versehen. Das macht die Serie zwar nicht zu einem optischen Stilkatalog à la „Downton Abbey“ für die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg oder „Mad Men“ für die amerikanischen Sechziger. Aber es reicht aus, um im Zusammenspiel mit den Figuren ein angenehm stimmiges, unaufdringliches Ambiente zu schaffen.

Und so entsteht daraus eine ziemlich ansehnliche Krimiserie: Lädiert von seinen unglücklichen Beziehungen zu Frauen und gejagt von den Front-Flashbacks greift Sidney Chambers zum Whiskeyglas oder flüchtet sich in die Verbrecherhatz mit Geordie Keating. Der abgeklärte Keating überwindet seine anfängliche Skepsis gegenüber dem forschen Amateurermittler und lernt dessen originelle Denkweise als manchmal unverzichtbare Ergänzung der vorschriftsmäßigen Polizeiarbeit schätzen. Sidney Chambers und Geordie Keating: Nach den sechs Episoden der ersten Staffel will man sie nicht mehr missen – zum Glück werden weitere Folgen gedreht.

Text verfasst von: Robert Lorenz