Filmtipp

Videodrome (1983)

Kurzbeschreibung: Auf seiner Routine-Suche nach perversen Fernsehformaten stößt TV-Macher Max Renn auf ein ungemein faszinierendes, radikales Programm, das Fernsehen zur extremen Erfahrung macht. David Cronenbergs „Videodrome ist ein bizarrer Trip voller Halluzinationen, auf dem die Grenze zwischen Medium und Mensch verwischt.

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Jahre vor seiner Zeit, ein Meisterwerk, auf hohem Niveau gescheitert oder einfach nur langweilig, magenumdrehend: Bei David CronenbergsVideodrome“ gehen die Meinungen auseinander – meist ein sicheres Indiz für einen sehenswerten Film. Im umfangreichen Cronenberg-Œuvre fällt „Videodrome“ noch in die Kategorie Frühwerk: The Brood“ (1979) und Scanners“ (1981) waren davor gedreht worden, die Mainstream-Erfolge The Dead Zone“ (1983) und The Fly“ (1986) folgten. Gerade die letzteren drei gelten vielen als geniale Horror-Trilogie und etablierten Cronenberg als prominenten Regisseur.

Max Renn und sein Techniker in dessen Arbeitsraum.

Wie in „The Dead Zone“ und „The Fly“ geht es um die Selbstzerstörung eines Menschen, diesmal um die des leicht schmierigen Programmplaners eines kanadischen Schmuddel-TV-Senders. Max Renn war eine von James Woods’ ersten großen Rollen; 1979 hatte er den brutalen Cop-Killer in The Onion Field gespielt, seine große Performance in Sergio Leones „Once Upon a Time in America“ (1984) kam erst kurz nach „Videodrome“.

Nahaufnahme von Debbie Harry als Nicki Brand in lasziver Pose.

Das, was Renn in sein Sendeprogramm aufnimmt, muss perverse Fetischgelüste bedienen – weshalb er auch den Antiken-Porno „Apollo and Dionysos“ ablehnt, den ihm eine griechisch stämmige Filmlieferantin anbietet. Umso elektrisierter ist er von einer subversiven Übertragung, die sein Techniker aus dem Äther fischt, in der eine Frau erst gefoltert und dann getötet wird. Derbes Schauspiel oder grauenvolle Realität? Renn jedenfalls will jetzt alles über dieses Format wissen und das umso mehr, je drastischer die Warnungen ausfallen, bloß nicht tiefer in die Recherche einzutauchen. „Videodrome“ heißt die Sendung, hinter der angeblich ein völlig neues Fernseherlebnis stecken soll.

Max Renn und Nicki Brand in einer Talkshow.

Renn beginnt zu halluzinieren und genau wie er weiß man auch als Zuschauer bald nicht mehr, was real und was eingebildet ist. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Television verwischen – in einer Szene verschmilzt Renn mit dem TV-Gerät, auf dem ein bildschirmgroßer Mund flimmert, den Renn innig küsst. Möbel verformen sich surreal, in einem Moment schlägt Renn seine Sekretärin, was sich aber nur als Halluzination herausstellt – und dann ist da natürlich die berüchtigte Szene, in der sich widerlich in Renns Bauch eine Kluft auftut, die wie eine pulsierende Vagina aussieht und in die er hinein fassen kann.

Nahaufnahme von Peter Dvorsky als Harlan bei der Arbeit an einem Apparat.

Renn entfremdet sich immer weiter von der Realität, wird Opfer einer Manipulation, einer merkwürdigen Verschwörung, und am Ende huldigt er der martialischen Parole „Long live the new flesh!“. Über seine Video-Vulva kann er mit darin eingeschobenen Kassetten programmiert werden, wird zum willenlosen Killer, dann wieder von der Gegenseite umprogrammiert, aber ist letztlich bloß noch Objekt externer Autoritäten.

Renn mit schmerzverzerrtem Gesich, als ihm Barry Convex etwas in den Bauch einschiebt.

All diese Effekte, obwohl inzwischen mehr als dreißig Jahre alt, sehen in keiner Weise trashig aus, wirken – im Gegenteil – durch den zeitbedingten Verzicht auf CGI erstaunlich realistisch (Maskenbildner Rick Baker hatte gerade für An American Werewolf in London“, 1981, den ersten seiner insgesamt sieben Oscars erhalten). Und Cronenberg nutzte das Talent seiner Spezialeffektexperten zugunsten makabrer Szenen aus: Körperteile werden entsetzlich verstümmelt, sekundenlang degeneriert eine Leiche auf der Bühne einer Unternehmensmesse.

In einer Nebenrolle sehen wir Debbie Harry, die Frontfrau der britischen Band „Blondie“, die damals bereits ihr letztes Album (bis zur Reunion Ende der 1990er Jahre) veröffentlicht hatte. Sie spielt Nicki Brand, die im Radio eine Art Domian ist; vor allem aber ist sie eine laszive, masochistische Femme fatale, die zusammen mit Renn in einer Talksendung zum Thema Fernsehen gastiert; und aus Langeweile flirten sie miteinander, landen dann im Bett. Mit einer Selbstverständlichkeit, als solle er ihr ein Glas Wein einschenken, schlägt sie Renn vor, sie mit seinem Schweizer Taschenmesser zu ritzen.

Verärgerter Renn in dunklem Zimmer im Gespräch mit seinem Techniker.

Videodrome“ spielt mit der extremen Vision eines neuen Medienzeitalters, in dem die Menschen mit dem Medium symbiotisch verschmelzen. Und der Visionär dahinter, ein Mann mit dem Pseudonym Professor O’Blivion (Jack Creley), existiert nur noch auf tausenden von VHS-Kassetten. Seine Tochter (Sonja Smits) überwacht die „Cathode Ray Mission“: einen Aufenthaltsort, an dem Obdachlose mit Essen, Kleidung – und Fernsehen – versorgt werden. Renn soll von düsteren Mächten, mit denen O’Blivion einst zusammenarbeitete, dann von ihnen ausgeknipst wurde, verleitet werden, das manipulative „Videodrome“ über seinen TV-Sender auszustrahlen.

Renn und Kollegen am Konferenztisch.

Um sich die einstmalige Faszinationskraft von „Videodrome“ ausmalen zu können, muss man sich die damaligen Standards der elektronischen Unterhaltungsinfrastruktur vergegenwärtigen: In der Bundesrepublik verbreitete sich erst allmählich Kabelfernsehen, der Durchbruch der Privatsender kam indes erst mit der Satellitenschüssel in den späten Achtzigern, vom Internet war noch gar keine Rede. „Videodrome“ fiel unmittelbar in die Dekade des einseitigen Medienkonsums, in der man auf ein paar Sender beschränkt und der Videorekorder ein angebeteter Technikgott war. Dass sich der Programmchef eines Fernsehsenders von einem seiner Techniker mit großem Elektronikbrimborium mühsam und mit reichlich Glück ein Signal abfangen lässt, mit dem er in den Genuss einer Sendung in schlechter Bildqualität kommt, klingt aus heutiger Sicht beinahe absurd. Aber die Begeisterung über Videopiraterie, das Spiel mit der Technikbeherrschung, das war eben ein Teil dieser TV- und Video-Ära, die heute primitiv anmutet, aber damals umso progressiver gewirkt hat.

Max Renn mit mysteriöser Applikation auf dem Kopf.

Videodrome“ greift aber auch auf die ganz großen Linien aus: auf das ungeheure Machtpotenzial elektronischer Massenmedien und deren Anfälligkeit für finstere Manipulationen – eine Technologie, die dem Einfluss ihrer Schöpfer entgleitet und völlig entgegen ihren ursprünglichen Zwecken genutzt wird, von unbekannten Strippenziehern einer Geheimorganisation. Das augenscheinlich für alle Sichtbare ist in Wirklichkeit hochgradig intransparent. Ahnungslos lässt sich das Publikum berieseln und merkt nicht, dass es die ganze Zeit einer subtilen Arglist zum Opfer gefallen ist – im Grunde die zynische Steigerung der seinerzeit allgegenwärtigen Befürchtung, dass Fernsehen die Bevölkerung kollektiv verdumme.

Text verfasst von: Robert Lorenz