Der Mann mit dem goldenen Arm (1955)
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„Jungfrau“, „Orgasmus“. Was waren diese Worte früher tabuisiert – das ist heute kaum mehr vorstellbar. Damit verbunden ist ein Name, der inzwischen vermutlich nur noch eingefleischten Cineasten geläufig ist: Otto Preminger (1905–86). Dieser Regisseur, kurz nach der Jahrhundertwende noch in der kaiserlich u. königlichen Donaumonarchie zur Welt gekommen, arbeitete in seinen jungen Jahren mit Max Reinhardt in Wien am Theater, später auch mit Ernst Lubitsch. Als er dann ins Exil ging, in die USA, avancierte er zu Hollywoods notorischem Tabubrecher.
Der Code-Knacker
Als erster Filmemacher ließ er in seinen Werken die damals unsagbar anzüglichen Worte „Jungfrau“ und „Orgasmus“ aussprechen und in „Der Mann mit dem goldenen Arm“ war es das Drogensuchtthema, das in der damaligen Filmbranche noch ein Tabu war. Die drastische Darstellung der Drogensucht – eines ganz sicher nicht randständigen Phänomens in den Vereinigten Staaten – musste Preminger, seinerseits promovierter Jurist, gegen eine reaktionäre Zensur auf dem Gerichtsweg durchsetzen. Damit verschob er Grenzen, denn Hollywood änderte daraufhin seinen Produktionskodex, der bis dato die Darstellung von Drogensucht, aber auch Abtreibung und Prostitution nicht erlaubt hatte.
Das war freilich zu einer Zeit, als noch nicht einmal „sinnliche Küsse“ oder ein profanes Fluch-Vokabular gestattet waren. Dabei war die amerikanische Unterhaltungsindustrie schon einmal weiter gewesen: Weil die großen Studios am Ende der „Roaring Twenties“ hatten verhindern wollen, von Staats wegen reguliert zu werden, waren sie dem Gesetzgeber mit ihrer Selbstverpflichtung umso extremer zuvorgekommen. Es brauchte dann erst starrköpfige und mutige Leute wie Preminger, um die reaktionären Statuten des amerikanischen Filmemachens wieder zu revidieren und Hollywood zu zwingen, soziale Phänomene, die sich inmitten der Gesellschaft ereigneten, nicht geflissentlich zu ignorieren, sondern sie zum Sujet kritischer Filme zu erheben. „Der Mann mit dem goldenen Arm“ bildete hierbei einen historischen Meilenstein.
Wie wichtig solche Beiträge für die (amerikanische) Filmkultur sind, zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der uns all diese Begriffe und Themen heute beim Filmkonsum begegnen. Ausgerechnet in diesem Bereich, dem Film, war das vermeintlich konservativere, gegenüber dem Lebensgefühl in den USA chronisch zurückbleibende Westdeutschland damals erheblich fortschrittlicher: Dort erhielt Premingers soziale Mikrostudie von der Filmbewertungsstelle der Länder 1956 das Prädikat „Wertvoll“.
Die Tragik der Maschine
Die Handlung greift eine Konstellation auf, die nach wie vor ein gravierendes Problem moderner Gesellschaften darstellt: den Umgang mit Menschen, die nach ihrer Haftentlassung vor den gleichen Problemen stehen, die sie ursprünglich ins Gefängnis gebracht haben. Frankie Machine (Frank Sinatra) hat seine Haftstrafe abgesessen und kehrt nach Hause zurück. Nach Hause: Das bedeutet in seinem Fall eine karge Mietswohnung, in der ihn seine Frau Zosch (kaum zu ertragen, aber deshalb so gut: Eleanor Parker) erwartet. Seit einem Unfall ist sie an den Rollstuhl gefesselt. Für Machine soll es nun endlich von vorne losgehen, er hat seine Heroinsucht bekämpft und will ein neues Leben als Orchestermusiker beginnen. Von seinem alten Leben, in dem er einer der schnellsten Kartenmischer und raffiniertesten Pokerspieler weit und breit gewesen ist, will er nichts mehr wissen.
Doch Machines Chancen stehen schlecht. Denn nach wie vor ist er gefangen in dem Milieu, das ihn einst in den Knast gebracht hat. Mithilfe korrupter Polizisten erpresst ihn der Kleinganove Schwiefka (Robert Strauss
Robert Strauss (1913–75), der im Rahmen seiner Schauspielkarriere u.a. an der Seite von Frank Sinatra, Evis Presley oder Doris Day auftrat, wirkte 1971 in einer seiner letzten Rollen in dem dänischen Erotikfilm „Dagmar’s Hot Pants Inc./Die Lustagentur – Dagmars scharfe Kätzchen“ mit.
) und zwingt ihn zur Rückkehr an den Kartentisch. Schon nach kurzer Zeit ist Machine außerstande, sich den Geistern seiner Vergangenheit zu erwehren und wird wieder süchtig – süchtig nach dem Thrill mit den Karten, süchtig nach dem Stich mit der Nadel. So begibt er sich in die Fänge des Dealers Louie (Darren McGavin
Darren McGavin (1922–2006) spielte in „The Night Stalker“ (1972) und anschließend in einer gleichnamigen TV-Serie den investigativen Journalisten Kolchak, der mysteriösen Phänomenen nachspürt; hiervon hat sich Chris Carter zu seiner Erfolgsserie „Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI“ (1993–2002) inspirieren lassen, in der McGavin in zwei Episoden einen Gastauftritt hat.
), dessen verhängnisvolle Substanzen ihn für den Moment sämtliche seiner zahllosen Sorgen vergessen lassen. Seine Drogenabhängigkeit und seine in Selbstmitleid badende Ehefrau zerstören Frankie Machine – am Rande des Abgrunds sucht er Zuflucht bei seiner Ex-Affäre Molly (Kim Novak).
Rauschgift fĂĽr Machine
„Der Mann mit dem goldenen Arm“ ist ein ergreifendes Drama, glänzend gespielt von nahezu allen Beteiligten, ein Film „von elementarer Kraßheit“, wie damals die Zeit urteilte. Allen voran natürlich der Hauptdarsteller: Frank Sinatra (1915–98) – logisch, dass er für einen „Oscar“ nominiert wurde, kaum zu glauben, dass er ihn nicht gewann. Mitte der 1950er Jahre hatte der Sänger Sinatra seinen musikalischen Zenit bereits längst überschritten, die amerikanische Jugend gab sich nun anderen, jüngeren, frecheren Stars hin. Verdrängt von Elvis Presley & Co. suchte Sinatra sein Heil im Film. Womöglich erklärt sich auch daraus sein konzentriertes Schauspielengagement in „Der Mann mit dem goldenen Arm“, welches Zeugnis ablegt, dass der Star-Entertainer die Filmbranche nicht bloß als nervige Nebentätigkeit betrachtet hat. Sinatra, der seinerzeit dem vor der Kamera allmächtigen Marlon Brando die Rolle wegschnappte, verkörpert den vermeintlich geläuterten Ex-Junkie, der erneut süchtig wird, beklemmend authentisch.
Anfangs voller Hoffnung schwingt Frankie Machine optimistisch die Jazz Brushes seines Schlagzeugs, um für seinen Einstieg als Mitglied einer Big Band zu trainieren. Bereits wenige Szenen später hat er den eleganten Nadelstreifenanzug, in dem sich sein bevorstehender Berufswechsel manifestieren sollte, abgelegt und sitzt hemdsärmelig mit Schirmkappe in einem verrauchten Hinterzimmer am Pokertisch, um im Zigarrendunst zwielichtiger Gestalten die Karten zu dealen. Machine hält dem Druck dieser kleinkriminellen Atmosphäre nicht stand, wird zu einem schlaflosen Tag-und-Nacht-Kartenmarathon genötigt, lukrativ freilich nur für die anderen; schließlich resigniert er und gibt der Offerte eines hinterlistigen Verführers nach. Kurz darauf schließt sich hinter ihm die Tür, Louie händigt ihm das Injektionsbesteck aus, ehe ihn die nächsten Entzugserscheinungen malträtieren – mit zitternder Hand und angstvollem Gesicht würde er jetzt alles für den nächsten „Fix“, den dringend benötigten Rausch, tun.
In diesem Kontext steht auch die stärkste, nachhaltigste Szene des Films, in der Sinatra – erstmals in einem Hollywood-Film überhaupt – einen „Cold Turkey“ (kalten Entzug) performt, der den ganzen Wahnsinn des Drogendeliriums veranschaulicht, wenn sich der Protagonist am Boden krümmt, schreit und schließlich im Wandschrank eingesperrt werden muss
Eine andere bewegende Cold-Turkey-Szene spielt, zwanzig Jahre später, Gene Hackman in „French Connection II“ (1975).
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Die (Halb-)Welt, die Preminger in „Der Mann mit dem goldenen Arm“ zeigt, wäre selbst bei einer nachträglichen Kolorierung des Films noch grau und trist. Die Figuren, die am Rande der Szenen auftauchen, erscheinen als derangierte Gestalten einer gescheiterten Gegenwart, Manifestationen gesellschaftlicher Missstände. Halbwegs aufrichtige Typen wie Sparrow (Arnold StangÂ
Konträr zu seinem Profil als Comedian und Cartoon-Stimme spielt Stang (1918–2009), der hier mit seiner dicken Hornbrille wie eine Art Computer-Nerd von der Straße aussieht, in „Der Mann mit dem goldenen Arm“ die tragische Rolle des bedeutungslosen Komplizen von Kleinganoven – eine Performance, von der es heißt, sie habe Dustin Hoffman später als Vorlage für seinen ungemein traurigen Ratso Rizzo in „Asphalt-Cowboy“ (1969) gedient.
) hoffen darauf, als Laufburschen skrupelloser Strolche eines Tages auch mal etwas vom großen Kuchen abzubekommen – zumal ihnen sonst nichts bleibt. Aber auch sie sind hilflos und müssen sich in die Umstände fügen, in die sie irgendwie hineingeraten sind.
Sparrow und selbst der vielseitig talentierte und smarte Frankie Machine werden beherrscht von Halunken, die sie rücksichtslos ausbeuten, stets nur auf den eigenen Vorteil bedacht, fern jeder zwischenmenschlichen Solidarität. Einer wie Frankie Machine wird in dieser Subkultur zerrissen, ohne fremde Hilfe kann er nicht mehr entkommen. Preminger zeigt in diesem Film, dessen Szenen manchmal an ein Theaterstück erinnern, eine bedrückende Welt, die nicht mehr viel mit dem amerikanischen Traum zu tun hat.
TextRobert Lorenz
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