Die Dinge des Lebens (1970)
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Gleich zwei Mal wird diese sensationelle Szene gezeigt: beim ersten Mal in quälend langer Zeitlupe und beim zweiten Mal leicht beschleunigt. Durch diese Wiederholung gewinnt die ohnehin nachdrückliche Darstellung dieses schweren Autounfalls eine besonders tiefe Intensität. Und jedes Mal wird der Insasse, wird Michel Piccoli als Pierre Bérard, auf dem Fahrersitz hin und her geschleudert, sieht man das Fahrzeug erst von der Straße abkommen, dann sich überschlagen und gegen einen schmächtigen Baum fahren – kurz vor dem letzten Aufprall am Holzstamm wird der unglückselige Fahrer aus dem demolierten Vehikel ins Gras geschleudert, wo er – fast unsichtbar – zwischen den langen Halmen liegen bleibt. Und man sieht auch, wie sich der prachtvolle Alfa Romeo „Giuletta Sprint“ zu einem brennenden Wrack verformt – eine äußerst eindringliche Sequenz, die ihre Zuschauer das Brachiale eines solchen Unfalls zumindest halbwegs nachempfinden lässt. Und auch für Bérard, den erfolgreichen Architekten aus Paris, ist es eine destruktive Transformation, an deren Ende sein Tod steht.
„Les choses de la vie“, so der Originaltitel, ist einer der Filme, die vom Ende her erzählt werden. Denn die Männer hinter dem Film – Regisseur Claude Sautet und die beiden Drehbuchautoren Paul Guimard und Jean-Loup Dabadie – lassen ihn mit dem tödlichen Unfall beginnen. Aufgeregte Menschen drängeln sich am Straßenrand, Polizisten kämpfen um die Kontrolle über die Ausnahmesituation, Zeugen und Unfallbeteiligte machen Aussagen, die genauso viel der eigenen Beruhigung wie der Aufklärung des Sachverhalts dienen. Bérard ist da schon auf dem Weg ins Krankenhaus nach Le Mans, in einer Art Elysium, in dem er einen Bootsausflug unternimmt, die Sonne am Strand spürt – Wahnfantasien eines Sterbenden.
Dann der lebendige, intakte Bérard, wie er den letzten Tag vor seinem Unfall verbringt. Das ist die eigentliche Geschichte von „Les choses de la vie“, das auf dem gleichnamigen Roman von Guimard aus dem Jahr 1967 basiert: Pierre Bérard lebt von seiner Frau getrennt und ist mit Hélène (Romy Schneider) liiert. In einer der ersten Szenen des Films wachen Hélène und Pierre auf, frühstücken. Romy Schneider und Michel Piccoli: Dieser Film machte sie zu Beginn des Jahrzehnts zu einem ultimativen Filmpaar der Siebziger. Piccoli sitzt im Frottee-Bademantel hinter ihr; sie fragt: „Was machst Du?
“; er erwidert: „Ich sehe Dich an.
“ Und dann dreht sich Romy Schneider zu ihm um; sie trägt eine Brille mit großen runden Rändern, wie sie heute, fünfzig Jahre später, wieder modern ist, und lächelt ihn an. Was für eine Aufnahme, wie ein gemaltes Porträt niemals gelungener sein könnte.
Doch die beiden streiten sich, verbringen einen elendigen Abend miteinander, an dessen Ende Bérard Schluss machen will. Er schreibt einen Brief an Hélène, in dem er seine Trennung vollzieht; aber er schickt ihn nicht ab; stattdessen lässt er Hélène mitteilen, sie werden „sehnsüchtig
“ in einem Hotel erwartet. Und dann rast er mit seinem italienischen Sportwagen auf der Landstraße in einen liegengebliebenen Laster, der Schweine transportiert. Eine Fahrlässigkeit, ja; aber so unendlich tragisch. Denn in seiner Sakkotasche trägt er noch den Brief mit sich, in dem er sich von Hélène trennt, obwohl seine letzten Gedanken vor dem Unfall bereits wieder um ihre Hochzeit kreisten.
„Les choses de la vie“ ist voll der unverwechselbaren Atmosphäre des französischen Siebzigerjahre-Kinos – und dazu gehören nicht zuletzt die unendlich melancholischen Melodien von Philippe Sarde, der damals – Ausweis seines Genies – gerade erst 25 Jahre alt war. Und die vielen Details, gerade aus der Distanz vierer Jahrzehnte: Auf den Straßen tummeln sich legendäre Karossen wie der „R 4“ von Renault (gebaut bis in die 1990er Jahre, damals aber noch keine zehn Jahre in Produktion) oder der „göttliche“ Citroën „DS“ – und Michel Piccoli qualmt in jeder Szene, ständig hat er eine Kippe im Mundwinkel hängen, so als ob die Tabakindustrie diesen Film kofinanziert hätte.
Sautets Drama ist ein Film, der sich Zeit nimmt für seine Szenen, in dem keine Hektik aufkommt, obwohl doch auch hier alle schon so viel beschäftigt sind. Er fokussiert seine Figuren, deren Köpfe manchmal dem Empfinden nach minutenlang betrachtet werden. Und obwohl Romy Schneider eine formidable Performance abliefert, einen ihrer besten Filme, ist es ein Piccoli-Film. Der Franzose, gebürtig aus Paris, war damals 44 Jahre alt und seine markanten Augenbrauen krönen ein Gesicht, das im selben Moment entschieden und fragend dreinblickt. Wehmut kommt in ihm auf, als er kurz in seiner alten Wohnung vorbeischaut; Zorn als sich ein gewiefter Geschäftspartner mit ihm anlegt; und unsichere Liebe, weil er Angst davor hat, alleine zu leben. Als Bérards Körper – erst regungslos, dann bewusstlos – nach dem Unfall gezeigt wird, als der Mann zwar noch lebt, aber nicht mehr gerettet werden wird, spricht er sanft aus dem Off, vernimmt die Gespräche der Unfallhelfer Polizisten und Ärzte, redet sich Optimistisches ein („Es geht mir gut.
“) – und über allen Gedanken schwebt die feste, dringliche Absicht, den Trennungsbrief zu vernichten. Aber Bérard wird dazu nicht mehr in der Lage sein.
TextRobert Lorenz
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