Sweet Charity (1969)
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Nur wenige Minuten liegen dazwischen. Gerade noch stürzt sie überglücklich durch die überlaufenen Avenues von „Big Apple“, springt euphorisch auf federnden Polstermöbeln in einem Einrichtungshaus umher und freut sich wie das Janosch’sche Honigkuchenpferd. Dann trifft sie im Park ihren sonnenbebrillten Freund, vor ihrem geistigen Auge eine glorreiche Zukunft im gemeinsamen Appartement, womöglich sogar Hochzeitsfeierlichkeiten – ein Glückstag also. Sekunden später platscht sie in den kleinen Fluss, droht zu ertrinken, wird von Jugendlichen an Land gezogen, ist gedemütigt und ihrer so enthusiastisch zelebrierten Zukunft mit einem Male beraubt. Ihr vermeintlicher Ehemann in spe hat sie einfach von der Parkbrücke geschubst und ihr das Geld gestohlen – all ihr Erspartes, das sie für ihn und die gemeinsame Wohnung gerade eben erst freudestrahlend von der Bank abgehoben hat.
Aber womöglich ist das nicht einmal die schlimmste Erfahrung, die Charity Hope Valentine in ihrem Leben bislang gemacht hat. Und auch diese Enttäuschung steckt sie am Ende lässig weg – auch wenn sich ihre Freundinnen und Kolleginnen im Nachtclub über sie belustigen. Charity ist Tänzerin; aber dort wo sie tanzt, müssen die Frauen manchmal auch mehr für ihr Geld tun. Und die Chance, irgendwann von einem gnädigen Talentsucher entdeckt zu werden, ist in derlei Gefilden New Yorks nicht sonderlich groß. Das ist das Leben der Charity Hope Valentine, „the girl who wanted to be loved“
, wie es mehrmals im Film heißt. „Sweet Charity“ folgt dieser Suche nach bescheidenem Glück; doch weil das Werk die Verfilmung eines erfolgreichen Broadway-Hits ist, kommt es als Musical daher. Aber selbst Musical-Skeptikern sei zu diesem Film geraten – denn selten wird so mitreißend getanzt und gesungen. Kein Wunder: Denn inszeniert hat diesen Film der knallharte Perfektionist Bob Fosse.
Gleich am Anfang des Films führen laszive Nachtclub-Tänzerinnen den brillanten Song „Big Spender“ auf, in der In-Disko „Club Pompeij“ liefert eine Gruppe satirisch überzeichneter Sixties-Models eine elegant-bizarre Vorstellung ab und später wird auch noch der Sinatra-Kumpel Sammy Davis, Jr. aufgeboten, der als „Big Daddy“ ein illegales – und ebenfalls bizarres – Zeremoniell in einer Autowerkstatt abhält. In ungeheurem Tempo werden markante New-York-Schauplätze wie die Wall Street, der Central Park oder das Yankee Stadium in die Choreografie eingebunden. All das verwehrt sich jeglicher Beschreibung durch Worte und muss daher selbst angeschaut werden. Lediglich so viel: Die präzisen Bewegungsabläufe und die perfekte Körperbeherrschung lassen erahnen, wie sehr Bob Fosse seine Darsteller mit einem unerbittlichen Anspruch an die vollkommene Performance während der Dreharbeiten gequält haben muss.
Die Frau, die in „Sweet Charity“ lacht, weint, tanzt und singt, als müsste sie der Welt zum allerersten Mal ihre Schauspielkunst beweisen, ist die „mittlere“ Shirley MacLaine – jene MacLaine, die schon nicht mehr ganz so unverbraucht wie in den großartigen Billy-Wilder-Klassikern „Das Appartement“ (1960) oder „Das Mädchen Irma la Douce“ (1963) wirkt, sich zwar noch deutlich von der „Oscar“-prämierten MacLaine des herzerweichenden Dramas „Zeit der Zärtlichkeit“ (1983) unterscheidet, aber doch schon etwas von der erhaben gealterten MacLaine in der Serie „Downton Abbey“ (2010–15) erkennen lässt.
Trotz allen Spektakels zogen die „Oscars“ 1970 an „Sweet Charity“ vorbei – selbst die Nominierungen beschränkten sich auf die drei Kategorien „Beste Kostüme“, „Beste Musik“ und „Beste Kulissen“. MacLaine wurde übergangen, die Academy-Statue für die beste weibliche Hauptrolle erhielt damals Maggie Smith für „Die besten Jahre der Miss Jean Brodie“ (1969) (gleichwohl eine ebenfalls beeindruckende Rolle).
TextRobert Lorenz
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