Filmtipp

Opening Night (1977)

Kurzbeschreibung: Broadway-Star Myrtle Gordon steht kurz vor der großen Bühnenpremiere am Rande zum Kollaps und das Ensemble bangt um den Erfolg der großen Aufführung – John Cassavetes’ Drama mit seinen intensiven Kameraperspektiven ist Independent-Kino par excellence.

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In dicken Lettern prangt ihr Name in gleicher Größe wie der Titel des Theaterstücks auf der beleuchteten Ankündigungstafel: Myrtle Gordon (Gena Rowlands) ist der allseits gefeierte Star des Ensembles. Wenn sie nach der Vorstellung das Gebäude verlässt, muss sie sich wie ein Popstar ihren Weg durch einen Pulk kreischender Fans bahnen. In ihrem Rausch bemerken sie auch gar nicht, dass ihre angebetete Gordon sich noch kurz zuvor einen ordentlichen Schluck harten Alkohols eingeflößt hat. Ihre Assistenten halten für sie immer eine Bourbon-Pulle bereit und es gibt fast keine Filmszene mit ihr, in der sie nicht raucht. Mit dem aktuellen Stück, das Gordon spielen soll, kann sie nicht viel anfangen – wie sie ganz offen behauptet („I’m not going through menopause.“). In Wirklichkeit belastet sie das Thema ihrer Rolle: das Altern einer Frau. Geschrieben hat es die 65-jährige Sarah Goode (Joan Blondell), die mit Gordons Performance unzufrieden ist, aber für Theaterverhältnisse erstaunlich verständnisvoll und kompromissbereit reagiert. Gordon indes, Ende vierzig, gibt vor, sich mangels Betroffenheit nicht in die Rolle hineinversetzen zu können.

In den Proben ist sie schlecht, unkooperativ, verweigert sich Szenen, wirkt apathisch. Ihr Chef, Manny Victor (Ben Gazzara), glaubt, sein übliches Fürsorgeprogramm mit nächtlichen Telefonaten, intimen Liebesbekundungen (im Beisein seiner Frau) und kleinen Zärtlichkeiten auflegen zu müssen. Doch es sind nicht bloß die Allüren einer verwöhnten Diva, vielmehr leidet Myrtle Gordon unter einem veritablen Trauma: Einer ihrer Fans, eine Siebzehnjährige, ist – kurz nachdem Gordon ihr im üblichen Hintertürtrubel ein Autogramm gegeben hat – auf der Straße von einem Auto erfasst und brachial ins Jenseits befördert worden. Diese drastische, abrupte Erfahrung überwältigt den Bühnenstar und jetzt erst bemerkt Gordon, wie heftig sie tatsächlich das Thema Älterwerden erschüttert.

Dieser grauenvolle, ganz und gar sinnlose Tod ihres Fans belastet Gordon so sehr, dass ihr die junge Frau bald in Wahnvorstellungen erscheint. Während Victor denkt, Gordon spreche lediglich im Badezimmer hinter verschlossener Tür ihren Akt vor, erkennt Sarah Goode die heikle Situation und schleppt Gordon zu „ihrer“ Spiritualistin (ungefähr mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie Woody Allen in seinen Filmen einen Psychiater aufsucht). Nachdem sie kurz zuvor noch vorgegeben hat, es handle sich bloß um eine alberne Fantasie, die sie vollständig kontrollieren könne, stößt sie sich in apathischen Bewegungen mehrfach das Gesicht an einem Türrahmen und zerdeppert in einem Wohnzimmer lauter kleine Gegenstände, in der Absicht, die junge Frau, die sie verfolgt, zu töten.

Große Teile des Films zeigen Probeaufführungen und später dann auch die Premiere des Stücks „The Second Woman“. Mitunter filmt die Kamera minutenlang aus dem Parkett in der Publikumsperspektive die Darbietung von Gena Rowlands’ Myrtle Gordon und deren Bühnenpartner Maurice Aarons, den John Cassavetes spielt. Mit ihm war Rowlands damals schon seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet, gemeinsam hatten sie 1968 Faces (Review auf Filmkuratorium.de lesen), 1971 „Minnie and Moskowitz“ und 1974 „A Woman Under the Influence“ gedreht (überhaupt ist „Opening Night“ beinahe familiär, da nicht nur etliche Freunde und Freundinnen aus dem Rowlands-Cassavetes-Filmkosmos dabei sind – Peter Falk, Seymour Cassel, Peter Bogdanovich haben Gaustauftritte als sie selbst –, sondern auch ihre beiden Mütter Lady Rowlands und Katherine Cassavetes). John Cassavetes war auch in Personalunion Drehbuchautor und Regisseur von „Opening Night“, den er angeblich als seinen besten Film überhaupt betrachtete.

Cassavetes finanzierte ihn mit seinen gesamten Ersparnissen und Tantiemen – mit 1,5 Millionen Dollar Produktionskosten fast ein Low-Budget-Film. Das Geld war so knapp, dass Cassavetes zum Entsetzen seiner Frau mit dem Gedanken spielte, das gemeinsame Haus zu verpfänden; und für ein Product-Placement spendierte Kentucky Fried Chicken fettiges Essen für die Komparsen – der Independent-Pionier und Nonkonformist Cassavetes ertrug das nur schwer. Erst kurz zuvor hatte er The Killing of a Chinese Bookie“ (1976) fertiggestellt, nun engagierte er für sein Anschlussprojekt große Teile der Crew enreut und drehte „Opening Night“ in nur dreieinhalb Monaten. Als Schauplatz wählte Cassavetes einen Ort, der gehörig Historie eingeatmet hatte und dementsprechend eine ganz eigene Ausstrahlungskraft entfaltete: das 1931 erbaute Civic Auditorium in Pasadena (gleichwohl „Opening Night“ am New Yorker Broadway spielen soll).

Trotz seiner Länge von mehr als zwei Stunden ist der Film zu keinem Zeitpunkt langweilig und sogar einer der seltenen, an die man noch Stunden später denkt. Viel trägt dazu die Atmosphäre permanenter Improvisation bei, die das Publikum quasi direkt in das Geschehen versetzt: Die Kamera ist oft mittendrin, dicht an den Köpfen der Charaktere, als sei man als Zuschauer direkt in der Garderobe, der Fanmeute, dem Publikum, in der Limousine oder im Hotelzimmer. Es gibt viele Close-Ups, ganz oft schleichen sich schemenhaft Körperteile anderer Personen in das Bild ein, wenn jemand fokussiert wird; und die Dialoge werden von keinerlei Hintergrundmusik gestört. Die Sequenzen sind häufig sehr lang; aber dadurch erst machen sie die Gemütszustände der Akteure in der jeweiligen Situation erfahrbar: etwa als Myrtle Gordon zur Premiere zunächst nicht auftaucht, nirgends zu finden ist und die Kamera hin und her wechselt zwischen der Garderobe, wo man schon über mögliche Ausreden zur kurzfristigen Absage der Aufführung nachdenkt, oder dem Publikumssaal, wo sich in den vollbesetzten Reihen allmählich genervte Unruhe ausbreitet; und wie die Beteiligten – in diesen Minuten allesamt Opfer von Gordons Kollaps – gegen ihre Nervosität ankämpfen: die Autorin Goode und der Intendant Samuels (Paul Stewart), die sich im Gespräch um ihre Reputation sorgen; Victor, der hinter dem Vorhang auf dem fertigen Set noch schnell einen Koffer umstellt und ein Kleidungsstück umdrapiert; oder Simmons (John Tuell), einer der Darsteller, der einen kurzen Monolog hält. All dies veranschaulicht, in welcher Abhängigkeit eine solch komplexe Veranstaltung von einer einzigen Person stehen kann.

Dann die erstklassige Besetzung: John Cassavetes hat buchstäblich einen großen Auftritt als egozentrischer Bühnendarsteller während der Premiere; Ben Gazzaras Figur verachtet man manchmal für ihre Rücksichtslosigkeit und bewundert sie wenige Augenblicke später für ihre Fürsorglichkeit. Joan Blondells Autorin sieht man in manchen Szenen nicht an, ob sie von dem Geschehen verstört oder entzückt ist (was vielleicht auch daran lag, dass die Schauspielerin des klassischen Hollywood von dem unkonventionellen Siebziger-Indie-Stil irritiert war); und in einer Nebenrolle spielt Paul Stewart – der in Kiss Me Deadly“ (1955) einen der fiesesten Gangster des Fünfzigerjahrekinos gegeben hat – den sanftmütigen Intendanten David Samuels.

Aber überragt werden sie alle von Gena Rowlands. Den ganzen Film über agiert sie ungemein überzeugend und man ist sich nie sicher, in welchen Wahnsinn, welche Eskapade sie als Nächstes abdriftet oder welchen Eklat sie sich noch erlauben kann, ehe Manny Victor ausrastet. Die stärkste Sequenz – sowohl von Rowlands als auch des Films – ist das Finale: Während sich die Zuschauer bereits warmklatschen, das Bühnenbild des ersten Akts steht und das Ensemble den Beginn abwartet, fehlt Myrtle Gordon: die Protagonistin, der Star. Als sie sich am Hintereingang langsam die Treppe hinauf quält und wie im Delirium in das Gebäude stürzt – völlig betrunken, kaum mehr zum aufrechten Gang fähig –, schleift sie Victor in die Garderobe, lässt sie schminken und den verspäteten Beginn des Stücks verkünden.

Allen ist in diesem Moment klar, dass die Situation nur in einem Debakel enden kann. Gordon kann sich kaum auf den Beinen halten und faselt wie in Trance Versatzstücke ihrer Dialogzeilen vor sich hin. Noch an der Schwelle zur Bühne bricht sie zusammen – eine Horrorvorstellung für ihren Kollegen, der die erste Szene gespielt hat und beim Betreten des Backstage-Bereichs überhaupt erst von der Misere erfährt. Aber Myrtle Gordon spielt das Stück zu Ende – und sowohl dieses Spiel im Stück als auch ihr „Meta“-Spiel im Film sind schlicht umwerfend gut.

Text verfasst von: Robert Lorenz