All About Eve (1950)
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Nur zwei Sekunden liegen zwischen den beiden Einstellungen, aber für die Zuschauer sind es zwei Stunden – über 120 Minuten, die alles verändern, was ein normaler Schnitt als konsistentes, lineares Geschehen niemals gewandelt hätte. Durch die Unterbrechung der Rahmenhandlung variiert im geistigen Auge der Zuschauer dieselbe Mimik der Frau fundamental. Das ist der erzählerisch brillanteste Moment des Films. Man muss es sich vorstellen: Wären die beiden Szenen, in denen Eve Harrington (Anne Baxter), die junge Theateraktrice, die gerade mit einem hochangesehenen Preis ausgezeichnet und damit im illustren Bühnenmilieu quasi geadelt wird, erst am Tisch sitzt und sich dann für ihre Dankesrede zum Podium begibt, unmittelbar aufeinander gefolgt, dann wäre dies gewiss eine der gewöhnlichsten, banalsten, unmerklichsten Szenen der Filmgeschichte gewesen.
Aber indem sich dazwischen ein erzählerischer Rückblick einschiebt – die eigentliche Story des Films, die uns all die kurz eingeblendeten Gesichter, die in diesem Augenblick für uns als Zuschauer noch wenig bis gar nichts bedeuten (der Kritiker, der Autor, der Regisseur, der Altstar), mit Geschichten und Emotionen auflädt –, indem also diese Geschichte erzählt wird, geraten die beiden Einstellungen von Eve Harringtons völlig geringfügigem Aufbruch vom Tisch zum Podium zu einem der kraftvollsten, besten Momente der Filmhistorie.
An diesem Beispiel bekommt man gewissermaßen mit der Faust ins Gesicht, was Film zu leisten imstande ist. Denn dieselbe Mimik, die eben noch – zu Beginn des Films – den Eindruck einer tadellosen, unschuldigen, zweifelsfrei integren Frau vermittelt hat, von einem unverbrauchten Nachwuchsstar, von dem man annehmen muss, in naher Zukunft von den unbarmherzigen Mechanismen des Showgeschäfts aufgerieben zu werden, stellt sich 120 Minuten später – als der Einschub zu Ende ist und die Rahmenhandlung fortgesetzt wird – als die eiskalte Maske einer skrupellosen Manipulantin dar, die ebendiese Mechanismen des Showgeschäfts durchschaut und brutal zugunsten ihres Aufstiegs aus dem Nichts zum Star genutzt hat und dafür mit dem „Sarah Siddons Award for Distinguished Achievement in the Theatre“ belohnt wird. „All About Eve“ ist ein Lehrstück, wie Dialoge den Bildern eine ganz andere Bedeutung verleihen können.
Schaut man sich die Eingangsszene nach dem Schluss des Film nochmals an, ist diese Figur der Eve Harrington, aber sind auch die übrigen Charaktere mit ganz anderen, konträren Assoziationen belegt: Was vorher mimisch wie Demut der jung zu großem Erfolg gekommenen Schauspielerin vor dem Applaus der versammelten Theaterelite wirkte, ist nun als eisiges Triumphgefühl entlarvt; die verdiente gerinnt zur erschlichenen Anerkennung. Und auf der anderen Seite – dazu später mehr – sieht man einen Altstar, dessen Blicke beim ersten Schauen als niederträchtige Manifestation verächtlicher Arroganz daherkommen, die nun aber, beim nochmaligen Besehen, eine würdevolle Toleranz, eine fast schon selbstquälerische Zurückhaltung offenbaren. Wenn die Rahmenhandlung an dieser Stelle wieder zusammenläuft, möchte man als Zuschauer fast mitklatschen, als die Gäste der Zeremonie der Preisträgerin applaudieren – einfach, weil sich hier so dezent die große Kunst des Filmemachens offenbart.
Aber auch ohne diesen Narrationscoup ist „All About Eve“ ein formidables Werk aus den Tiefen der Hollywood-Backlist – ein Klassiker, wie man wohl ohne Übertreibung, aber auch ohne den Hautgout dieses abgegriffenen Labels sagen darf. Der Film gewann seinerzeit gleich sechs „Oscars“ – u.a. als bester Film, für das Drehbuch und die Regie – und war für acht weitere nominiert; das wiederum bei solcher Konkurrenz wie „Sunset Blvd.“ (1950) oder „The Third Man“ (1949). Und wie Billy Wilders „Sunset Blvd.“, in dem eine gealterte Stummfilmdiva an der Obsession eines grandiosen, in Wirklichkeit aber illusorischen Comebacks zerbricht, ist „All About Eve“ einer der seltenen Filme, in denen sich die amerikanische Kultur- und Unterhaltungsbranche einer masochistischen Selbstbeschauung unterzieht. Und damals, zu Beginn der Fünfziger, war der ungeschminkte Backstage-Blick noch etwas vergleichsweise Neues, bediente einen noch weitgehend unbefriedigten Voyeurismus des Publikums, einmal hinter die Kulissen des mythischen Showgeschäfts zu schauen.
Diese Introspektion spielt zwar nicht in Hollywood, sondern am New Yorker Broadway, lässt sich aber bruchlos auf die kalifornische Filmhauptstadt übertragen. Die gleichen Abgründe, in die Menschen fallen, werden hier beleuchtet: der rücksichtslose Ehrgeiz der Newcomer; die arglistige Manipulation des Informationssammlers; oder die paranoide Unsicherheit des Stars, der ungeachtet aller bisherigen Triumphe um seine Karriere bangt. Letzteren Part spielt Bette Davis – jene Schauspielerin, die so gewaltig war, dass noch ihre Augen Jahrzehnte später in einem Charthit der Achtziger („Bette Davis Eyes“, 1981) besungen wurden (diese Augen: In „All About Eve“ hält sie Bette Davis mit einer bemerkenswerten Disziplin zu einem Drittel mit den Lidern bedeckt, was ihnen die Ausstrahlung gefechtsbereiter Geschütze verleiht).
Bette Davis spielt zu einem nicht geringen Teil sich selbst: Wie ihr Filmcharakter Margo Channing, eine lebende Broadway-Legende, ein gefeierter Bühnenstar, war Davis – der allseits gepriesene Hollywoodstar, zweifache „Oscar“-Preisträgerin – damals Anfang vierzig und mit einer jüngeren Generation von Schauspielerinnen konfrontiert (im Film en passant und als ob mit unheimlicher Weitsicht von einer gewissen Marilyn Monroe in einer ihrer ersten (Neben-)Rollen repräsentiert). Margo Channing fühlt sich in ihrem Starstatus anfangs so unverwundbar, dass sie umso hysterischer und panischer reagiert, als sie allmählich bemerkt, den Zenit ihrer Karriere womöglich nicht nur erreicht, sondern bereits überschritten zu haben, und dass längst andere bereitstehen, um sie – die geniale, unvergleichliche Margo Channing – im Nu zu ersetzen. Apropos Ersatz: Die Figur der Margo Channing erscheint zwar im Rückblick als dramaturgische Maßanfertigung für Bette Davis, doch war Davis tatsächlich spontan für Claudette Colbert eingesprungen, die sich kurz vor Drehbeginn den Rücken verknackst hatte – der Zufall schreibt oft nicht die schlechtesten Kinogeschichten.
Die Story von „All About Eve“, die auf der Kurzgeschichte „The Wisdom of Eve“ aus dem Jahr 1946 beruht, zeigt nicht nur den Niedergang eines Stars, sondern auch den Aufstieg eines anderen – und noch dazu im selben Wirkungskreis. Eve Harrington steht irgendwann in Channings Garderobe, vorgestellt als einsame junge Frau, die all ihre Freizeit – und all ihr Geld – dem Besuch von Margo-Channing-Stücken widmet; jede Vorstellung hat sie gesehen, wieder und wieder ihrer angebeteten Margo Channing applaudiert. Und eine herzerweichende Lebensgeschichte hat sie parat: aufgewachsen in Armut, den Ehemann nach kurzer Zeit an den Krieg verloren. Alles eine Lüge, wie sich später herausstellt – aber etwas Güte und noch mehr Eitelkeit sind es, die Margo Channing verleiten, den ergebenen Fan als Adlatus in ihre Entourage aufzunehmen.
Während Channing in beschwingtem Narzissmus die Hingabe ihrer Gehilfin genießt, die ihr jeden noch so geringen Wunsch von den Lippen abliest (eifersüchtig beargwöhnt von Channings Zofe Birdie, gespielt von Thelma Ritter), vollzieht sich, was wir als Zuschauer selbst erst allmählich erahnen, was an Margo Channing jedoch völlig vorbeigeht: Der vermeintliche Dienst am vergötterten Star ist in Wirklichkeit der Bestandteil eines hinterlistigen Plans. Eve Harrington studiert Margo Channing in jeder ihrer Bewegungen, schmeichelt sich in Channings Umfeld ein, um sie dann letztlich so perfekt zu imitieren, dass sie in Verbindung mit ihrer Frische und Jugendlichkeit schließlich Channing vorgezogen wird – und sodass sich irgendwann unversehens in diesem frommen, selbstlosen Gesicht die Fratze einer fast teuflischen Karrieristin offenbart. Der servile Kotau vor der angehimmelten Theater-Aktrice war in Wirklichkeit ein Stich in deren Rücken.
Panische Allüren, Selbstbemitleidungen und Wutausbrüche sind unterbewusste Versuche der Margo Channing, ihren bedrohten Starstatus auf seine Beständigkeit abzuklopfen. Aber weil mit der eifrigen und anpassungsfähigen Harrington nun eine taugliche, noch dazu zukunftsträchtigere Alternative bereitsteht, unterminiert sich Channing mit ihrem Gebaren letztlich selbst. Im Bewusstsein ihrer Entbehrlichkeit und des Verrats von Eve Harrington, obendrein frustriert ob der Tatsache ihres 40. Geburtstags, betrinkt sich Channing auf ihrer Party mit Martinis, exhaliert den Rauch einer unablässigen Kette von Zigaretten (die sie in ihrer Hand so natürlich wie einen sechsten Finger bewegt) durch ihre Nase wie ein schnaubender Drache und schwelgt dabei als Gastgeberin in bitterem Zynismus: „Fasten your seat belts. It’s going to be a bumpy night.“
Überhaupt ist „All About Eve“ einer derjenigen Filme, welche die große Dialogkunst des alten Hollywoodkinos zur Schau tragen. Joseph L. Mankiewicz, der als Regisseur und Drehbuchautor in Personalunion fungierte, trat damals endgültig aus dem Schatten seines großen Bruders Herman J. Mankiewicz, der mit Orson Welles „Citizen Kane“ (1941) – einen der größten Filme überhaupt – geschrieben hatte, heraus. Nicht nur, dass Joseph L. Mankiewicz 1950 für „A Letter to Three Wives“ gleich zwei „Oscars“ erhielt, für das beste Drehbuch und die beste Regie; mit „All About Eve“ wiederholte er diesen fulminanten Erfolg nur ein Jahr später.
„All About Eve“ ist mitreißende, starke, vor allem zeitlose Filmunterhaltung. Dabei ist das Thema des Films unendlich tragisch, von einer tiefen Schwermut getragen: die Vergänglichkeit von Erfolg und Ruhm, die Flüchtigkeit von Publikumsgunst und Komplimenten, die unerwartete Bedrohung der Jugend, die einen einst selbst nach oben beförderte, nun aber die Konkurrenz begünstigt – die Abhängigkeit von einer versiegenden Ressource. Eve Harrington, die bedrohliche Jugend, lullt sich bereits selbst in einer gefährlichen Illusion ein: „If there’s nothing else, there’s applause. […] It’s like waves of love coming over the footlights and wrapping you up“.
Man kann sich, während man den Film schaut, vorstellen, wie in den Dreißigern und Vierzigern langsam, aber kontinuierlich eine Melancholie durch unzählige Hollywoodhaushalte in Beverly Hills und Umgebung waberte, wie die trübsinnige Erkenntnis, nicht mehr in der höchsten Starliga mitzuspielen, wider die Selbstverständlichkeit vieler Jahre doch nicht unersetzlich, womöglich nicht einmal unvergesslich zu sein, zur schmerzvollen Tatsache wurde; die leise Qual, zu realisieren, dass der Parforceritt von einer Produktion zur nächsten urplötzlich vorbei ist und man nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, auf Preisverleihungen und in der Öffentlichkeit. Wie viele Stars haben darunter gelitten, wie viele hat dies mental zerstört?
Das alles reicht für ein denkwürdiges Filmerlebnis bereits aus. Aber das Schicksal meinte es so gut mit „All About Eve“, dass es abseits des Leinwandgeschehens noch gleich eine Reihe realer Begebenheiten hervorrief, die den Film zusätzlich aufladen. Denn das Wissen um die Menschen, die den Film gemacht haben, kann den Filmgenuss – neben Ästhetik und Narrativ – mitunter noch einmal gehörig steigern und uns als Zuschauern noch lange nicht bloß über die fiktiven, sondern auch die realen Charaktere nachdenken lassen.
Und wieder muss man an dieser Stelle „Sunset Blvd.“ erwähnen, der dies quasi auf die Spitze trieb: die verblasste Stummfilmqueen – gespielt von Gloria Swanson, einer ebensolchen –; der tragische Butler Max, der einst ein Regisseur war – gespielt von Erich von Stroheim, dem rasant aufgestiegenen und ebenso tief gefallenen Regie-Zampano aus den Zwanzigern; oder Giganten aus der Stummfilmzeit wie Buster Keaton und Anna Q. Nilsson, auf die im Film als „waxworks“ rekurriert wird; und nicht zuletzt Hollywoods von den Stars gefürchtete Boulevard-Journalistin Hedda Hopper – ganz unverfroren als sie selbst. Wenn Filme derart off screen mit echten menschlichen Tragödien und Charakterzügen angereichert werden, befällt einen als Zuschauer unweigerlich das Gefühl, hier einem erhabenen Werk beizuwohnen.
Und so ist es eben auch mit „All About Eve“: Bette Davis hätte vermutlich keine Sekunde gezögert, um Anne Baxter, die Darstellerin des jungen Margo-Imitats, des Karrierediebstahls zu bezichtigen – nicht etwa, weil Baxter sich zu viel Bette Davis abgeschaut hätte, sondern weil sie bei der „Oscar“-Vergabe ebenfalls in der Kategorie der besten Hauptdarstellerin kandidierte und damit wohl Davis die Stimmen raubte (Judy Holliday gewann dann die Trophäe für ihre Performance in der Komödie „Born Yesterday“, 1950). Eine schöne Randnotiz: Der fiktive „Sarah Siddons Award“, den Mankiewiecz für die Eingangsszene von „All About Eve“ erfand und nach der walisischen Shakespeare-Darstellerin aus dem 18. Jahrhundert benannte, wird seit 1952 tatsächlich von der damals eigens gegründeten Sarah Siddons Society verliehen (mit so berühmten Preisträgerinnen wie Deborah Kerr, Lauren Bacall oder Liza Minnelli – auch Celeste Holm und Bette Davis aus dem „All About Eve“-Cast gewannen ihn). Dann Mankiewicz selbst, der, so erzählt man sich, viele seiner Ansichten in Dialoge des unbarmherzigen Theaterkritikers Addison DeWitt (George Sanders) hineingeschrieben habe. Noch viel mehr fasziniert die für einen Hollywoodfilm fast schon unverschämt gute Schicksalsfügung, dass dieser Geschichte eine reale Begebenheit zugrunde liegt: Die Exil-Wienerin Elisabeth Bergner (1897–1986), eine famose Bühnenberühmtheit auch nach ihrer Emigration in die USA, hatte angeblich eine junge Frau, die jede von Bergners Vorstellungen besucht habe, in ihren Kreis aufgenommen und zu ihrer Assistentin gemacht, nur um festzustellen, dass diese Frau versuchte, ihr den Ehemann und die Karriere zu stiebitzen (Mary Orr, der Bergner dies beim Schnitzelkochen in ihrer Küche erzählte, schrieb alles auf und veröffentliche die Bergner‑Story 1946 unter dem Titel „The Wisdom of Eve“ in der Cosmopolitan). Und schließlich das Filmpaar, das hinter den Kulissen eine Affäre hatte, die in eine kurze Ehe mündete: Noch 1950 heirateten Bette Davis und Gary Merrill, der Margo Channings Partner Bill Simpson spielt.
Aber die vielleicht schönste Geschichte ist die von Bette Davis, die das, was im Film in der Broadway-Fiktion geschieht, in der harten Hollywood-Realität einfach konterkarierte: Eine Schauspielerin jenseits der dreißig erspielt sich gegen das Altersklischee die Publikumsgunst.
TextRobert Lorenz
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