Filmtipp

Beim Sterben ist jeder der Erste (1972)

Kurzbeschreibung: In „Beim Sterben ist jeder der Erste“ inszeniert Regisseur John Boorman eine irre Transformation selbstbewusster Mittelschichtler zu desolaten Opfern von Natur und Hinterwäldlern.

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„Squeal like a pig!“ In der heftigsten Szene des Films wird der Großstädter Bobby im Wald von einem Hillbilly vergewaltigt. Während der dicke, nackte Mann im Laub liegt, vergeht sich der Einheimische an ihm – die Kamera blendet dabei hin und her zwischen dem schmerz- und angstverzerrten Gesicht von Ned Beatty und der tumben, abgrundtief primitiven Visage von Bill McKinney – und dem hilflosen Blick Jon Voights, dessen Ausflügler Ed mit einem Gurt um den Hals an einem Baumstamm festgeschnallt ist.

Begonnen hat alles ganz harmlos: Vier Männer planen eine Kanutour in der amerikanischen Wildnis, auf der sie für ein paar Tage das Großstadtleben hinter sich lassen wollen. Ein einzigartiges Freizeiterlebnis soll es werden, ein kontrolliertes Kräftemessen mit der unberührten Natur, ein maskuliner Rausch. Doch stattdessen gerät der Ausflug zum Cahulawassee River zum unvergesslichen Albtraumtrip mit tödlichen Feinden und halsbrecherischen Stromschnellen – ein Desaster, ein Horror-„City Slickers“.

Close-up von Burt Reynolds und Jon Voight beim besorgten Blick durch das Gebüsch.
Drei Männer am Waldrand vor einer Bruchbude aus Holz, am Rand parken zwei Fahrzeuge mit jeweils einem Kanu auf dem Dach.
Ned Beatty als Tourist im Gespräch mit einem Einheimischen zwischen zwei ramponierten Zapfsäulen.

Die Gruppe aus vier Mittdreißigern – Lewis (Burt Reynolds), Drew (Ronny Cox), Ed (Voight) und Bobby (Beatty) – will mit zwei Kanus den Cahulawassee River hinunterfahren, ehe das urwüchsige Areal in einen Stausee verwandelt wird. Es ist eine Alltagsflucht aus der urbanen Dienstleistungsgesellschaft: ein Luxus, aus einer Laune heraus die bürgerliche Komfortzone zu verlassen, um sich in das zivilisationsarme Hinterland zu begeben.

Und tatsächlich wirken die vier Männer wie Ankömmlinge aus einer fernen Welt. Die Einheimischen sind misstrauisch und auch etwas indigniert, dass irgendwelche Fremde ihren unwegsamen Lebensmittelpunkt zur Vergnügungsstätte erklären. Einem mürrischen Mann vertrauen die Touristen für vierzig Dollar ihre beiden Fahrzeuge an – die soll er zum geplanten Ankunftsort bringen. Und als Zuschauer fragt man sich natürlich schon jetzt, ob das funktionieren wird. Dann geht es auch schon los: Die Männer lassen ihre Boote zu Wasser, verladen den Proviant und legen ihre Schwimmwesten an. Jeweils zu zweit besteigen sie ihre Gefährte und paddeln los. Mit naiver Zuversicht fahren sie den Fluss hinab, und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Blick aus der Distanz auf zwei Männer im Kanu im reißenden Fluss.
Burt Reynolds in konzentrierter Pose als Abenteurer in ärmelloser Neoprenweste und mit Bogen in der Wildnis.

Mit Ausnahme von Lewis, der sich in der Umgebung souverän zu bewegen weiß – von einem Bizeps-bewehrten Burt Reynolds verkörpert – und sich obendrein aufs Jagen versteht, wirkt die Truppe inmitten der wilden Natur reichlich deplatziert. Bobby, ein untersetzter Kaufmann, traut man keine Sekunde zu, allein in der Wildnis auch nur eine Nacht zu überleben. Ed, auf den zu Hause Frau und Kind warten, kaschiert seine Unbeholfenheit mit einem beigen Fischerhut, ist aber außerstande, mit Lewis’ Jagdbogen ein Reh zu erlegen. Und Drew, Familienvater und Geschäftsmann mit liberalen Ansichten, gönnt sich einen Jungstrip. Nach kurzer Zeit fallen sie in die Hände zweier Hinterwäldler; und als sie denen gerade so entkommen, nimmt sie ein dritter unter Beschuss.

„Beim Sterben ist jeder der Erste“, so die deutsche Titelversion, kam damals mit einem No-name-Cast in die Kinos – allenfalls Jon Voight war ein halbwegs bekannter Darsteller, nachdem er für seine Rolle des tragischen Sexarbeiters in „Midnight Cowboy“ (1968) für einen Oscar nominiert worden war. Reynolds, der in den folgenden Jahren zum weltbekannten Superstar und Hollywoods Kassenmagneten Nummer eins aufstieg, hatte bis dahin nur an belanglosen Streifen mitgewirkt; und sowohl Cox als auch Beatty gaben ihr Filmdebüt. War Beatty danach für viele Regisseure die erste Wahl, wenn es darum ging, schmierige Anwälte, miese Ehegatten oder devote Gehilfen übler Gangster zu besetzen, spielte Cox in „RoboCop“ (1987) und „Total Recall“ (1990) zwei der fiesesten Bösewichte des Action-Kinos.

Cox ist es auch, der entsetzlich deformiert von seinen Freunden im Flussbett gefunden wird. Am Beginn des Films hatte er sich noch fröhlich mit dem Spross einer der Bergfamilien ein legendär gewordenes „Banjo-Duell“ geliefert (Cox war ein vielseitig talentierter Musiker, der mit eigener Band auf zahllosen Folk-Festivals spielte).

Blick auf ein Grundstäck mit Bretterbuden und Fahrzeugschrott.
Drei der vier Abenteurer in brenzliger Situation durchnässt im Fluss an einer Felsansammlung.
Nahaufnahme von Jon Voight, wie er mit erschöpftem Gesichtsausdruck an einem Felsen lehnt.

Zur dichten Stimmung des Films trägt auch viel der exzellent ausgewählte Drehort bei. Der Fluss findet sich unter seinem Filmnamen auf keiner Landkarte – ein fiktiver Ort des 1970 erschienenen Romans von James Dickey –; gedreht wurde auf dem Chattooga River, einem Rafting-Paradies an der Grenze der beiden Bundesstaaten Georgia und South Carolina. „Deliverance“ machte den unbekannten Ort mit seinem tückischen Gewässer im Nu zu einem beliebten Ausflugsziel abenteuerlustiger Kanu- und Kajak-Cracks. Die Location passt zu Regisseur John Boormans Vorliebe für die unwegsame Natur, in der sich die Menschen verlieren und die er in einigen seiner Filme als faszinierende Kulisse verwendet („Hell in the Pacific“ 1968, „Zardoz“ 1974, „Excalibur“ 1981).

Das beklemmende Moment, das „Deliverance“ in seiner Wirkung auf sein Publikum so stark macht, liegt in der Realitätsnähe dieses Thrillers, die sich Boormans Team mit strapaziösen, teils lebensgefährlichen Dreharbeiten erkaufte. Denn was sich hier abspielt, braucht nicht viel Fiktion, um tatsächlich einzutreten. Mit scheinbar geringem Aufwand kreiert der Engländer Boorman einen gewaltigen Kontrast zwischen Beginn und Ende des Films. Was dazwischen geschieht, würde jeden traumatisiert zurücklassen und bleibt noch über die Rückkehr ins Blu-Ray-Menü hinaus.

Eine alte Frau blickt aus dem Fenster eines alten Gebäudes aus Holzbrettern.
Ein Kind mit erwachsen wirkendem Gesicht spielt Banjo.

Testosteron-strotzend brettern die Stadtleute am Anfang in ihren Wagen zum Ufer, dabei schon die Zeit nach ihrer Rückkehr vor Augen, wenn sie ihren Kolleg:innen, Freund:innen und Angehörigen stolz berichten werden, wie sie das reißende Gewässer bezwungen, den Widrigkeiten der freien Natur getrotzt haben; und wie sie an ihren Schreibtischen zufrieden zurückblicken werden auf die Lagerfeuerromantik in trauter Männerrunde.

Nichts davon wird geschehen. Selten hat man den Wandel von Protagonisten zu solch desolaten Gestalten erlebt, eine seelische und teils körperliche Deformation, herbeigeführt lediglich durch zwei, drei Ereignisse, die wenig Fantasie voraussetzen, damit man sie sich vorstellen kann. Und selten ist einem so eindringlich vor Augen geführt worden, wie schnell die normativen Standards einer hochdifferenzierten Gesellschaft außer Kraft gesetzt sein können, wie profanes Vergnügungsverlangen einem ultimativen Überlebenstrieb weicht.

Text verfasst von: Robert Lorenz