Lolita (1962)
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Was hatte man sich alles von diesem Film erwartet – schließlich adaptierte er eines der kontroversesten Bücher des Jahrhunderts. „Without doubt it is the filthiest book I have ever read. Sheer unrestrained pornography“[1], schrieb etwa John Gordon, der Herausgeber des britischen Sunday Express. Gordon bezog sich auf Vladimir Nabokovs Skandalroman „Lolita“ aus dem Jahr 1955. Das Buch, das Nabokov weltberühmt machte, galt jedoch unter vielen Kritikern schon damals nicht als Schmuddellektüre, aber ihm haftete doch etwas Anrüchiges, ein erotischer, sexueller Hautgout, an. Nach Gerüchten und Meldungen, dass das Buch in diesem und jenen Land verboten worden sei, erwarteten seinerzeit alle drastische Pornografie im Gewand eines publikumsorientierten Romans. „Nichts da, Leute!“[2], entwarnte dann der Literaturkritiker Friedrich Sieburg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sieburg war es auch, der im selben Artikel schrieb, dass der Gedanke an die Verfilmung dieses Werks „ein besonders abstoßender“ sei.
Nabokov schrieb das Drehbuch selbst – was umso erstaunlicher ist, da der Film vieles weglässt, verkürzt und umgestaltet, was Autoren normalerweise heilig ist. Insofern spricht Nabokovs Doppelautorenschaft – erst des Romans, dann des Drehbuchs – für eine bemerkenswerte Disziplin dieses Schriftstellers, einfach sein eigenes Buch in ein hollywoodtaugliches Format zu pressen. Die Leinwandadaption machte zudem ein paar Kompromisse an die in der amerikanischen Filmbranche üblichen Mainstream-Bedürfnisse: So ist die Film-Lolita nicht mehr zwölf, sondern immerhin 14 Jahre alt, was die Pädophilie ihres älteren Verehrers, des Film-Protagonisten Humbert Humbert, abschwächte, wenngleich dessen Begierde anstößig blieb.
In „Lolita“ begegnet uns vor allem die Bigotterie der Mittelklasse: die zwar einen Pädophilieverdacht gegen den Stiefvater eines pubertierenden Mädchens hegt, aber nur leise Anspielungen macht – nicht etwa, weil sie sich für das Schicksal des Kindes interessiert, sondern nur nicht mit Unanständigem in Berührung kommen will. Und das zu einer Zeit, in der wie in der Bundesrepublik die normative wie auch sprachliche Modernisierung der folgenden Jahre sich erst zaghaft ankündigte: „ein sehr schönes, blondes, zartgliedriges, hochintelligentes Mädchen, von jener Generationslage, die man im Jahrhundert der amerikanischen Zivilisation Teenager nennt“[3] – so führte die konservative FAZ ihre Leserschaft an das seinerzeit heikle Thema heran.
Stanley Kubrick und sein Kameramann Oswald Morris visualisieren die brenzlige Situation, in der ein Mann mittleren Alters die pubertierende Tochter seiner Vermieterin begehrt, später sogar ihr Stiefvater wird, mit dezenten Licht- und Schattenspielen – etwa im Motelzimmer: Während Lolita im Bett schlummert, angestrahlt vom draußen glühenden Neonlicht, tritt Humbert aus dem Dunkel des nicht mehr erleuchteten Badezimmers; und als er am Bett steht, legen sich die lammellenförmigen Schatten der Jalousie wie Gefängnisgitter über seinen Bademantel.
James Mason, der Engländer, dessen Filmporträt des „Wüstenfuchses“ Erwin Rommel in „The Desert Fox“ (1951) damals schon über zehn Jahre her war und der auch schon seine geniale Rolle des Bösewichts in Hitchcocks „North by Northwest“ (1959) gespielt hatte, gehörte zu den größten Schauspielern seiner Zeit und konnte Mitte der 1980er Jahre auf eine beeindruckende, über ein halbes Jahrhundert währende Schauspielkarriere blicken. Und seine Rolle in „Lolita“ gehört zu den Highlights von Masons wildem, sehr breitem Figurenspektrum.
Genial ist, wie variantenreich Mason den gesellschaftlich geächteten Gefühlen seiner Figur Ausdruck verleiht: Noch eher zu Beginn des Films findet er einen Brief seiner Vermieterin in seinem Morgenmantel, ein Geständnis, wie sie darin ankündigt: In dem zugesteckten Papier gesteht sie ihm ihre Liebe und stellt ihm zugleich ein Ultimatum, ihre Liebe entweder zu erwidern oder das Haus zu verlassen – so als wüsste sie von seiner heimlichen Verzehrung nach der Tochter. Und mit jedem gefühlsduseligen Wort, das er von ihr liest, lacht Mason ein unglaublich abschätziges, erniedrigendes Lachen, bis er vor lauter Lachen in das Kissen der abgereisten Lolita sackt. Diesem fiesen Mason steht zum Ende des Films ein kaputter, aufgewühlter Mason gegenüber, der heulend die Geldscheine zückt – „with no strings attached“ –, natürlich in der vagen, verlorenen Hoffnung, dass seine Lolita mit ihm kommt. Und dann diese Verzweiflung: Auf jeden Wutanfall, ausgelöst vom Zorn, sie nicht kontrollieren zu können und die ersehnte Gegenliebe zu bekommen, folgen Gesten schierer Hilflosigkeit – besitzergreifende Bewegungen, bei denen er sich an ihrem Arm festkrallt oder ihre Handgelenke umfasst. Seine ganze akademische Statur, sein gesellschaftlicher Status sind in diesen Momenten einfach in Luft aufgelöst und er ist nichts anderes als ein wiederholt Verschmähter, dessen Objekt verbotener Liebe längst zur Obsession geworden ist.
Sue Lyon, zum Zeitpunkt der Filmveröffentlichung gerade erst 16 Jahre alt, spielt die Nymphe des Literaturgelehrten erstaunlich souverän und schuf mit ihren verführerischen Blicken unter der Herzchensonnenbrille gleich noch eine kleine Filmikone. Shelley Winters, künstlerisch ein Spross des berühmten New Yorker Actors Studio, wo auch Marlon Brando, Montgomery Clift, Marilyn Monroe, Al Pacino oder Ellen Burstyn ihr Handwerk erlernten oder zumindest verfeinerten, spielt die Mutter und Vermieterin Charlotte Haze. Sie ist die altersgerechte Partie für den Junggesellen Humbert Humbert, aber natürlich weit entfernt von seinem akademischen Niveau – lustlos bringt er ihr das Schachspiel bei und überhört ihre für seinen Geschmack belanglosen Konversationsbeiträge. Mason und Winters erspielen hier tragikomische Szenen par excellence: Während sie in ihren vulgären, ganz und gar gewöhnlichen Beziehungsabsichten um ihn herumwuselt, betrachtet er sie lediglich als ein Hindernis, das seine lüsternen Blicke auf Lolita verdeckt. Als sich Charlotte Haze für ihn mit einem Kleid im Leopardenmuster und tiefem Dekolleté in Schale wirft – unverkennbar darauf aus, mit ihm noch am selben Abend im Bett zu landen –, würde er am liebsten im Boden versinken; während sie trotz ihrer feisten Figur lockere Hüftschwünge vollführt (eine ganz und gar uneitle, selbstbewusste Geste von Winters, die sie in ihren Filmen gerne beisteuert), steigt bei ihm die Anspannung und er gaukelt ihr schließlich eine Neuralgie vor.
Die vierte Hauptperson ist Peter Sellers als Clare Quilty. Verblüffend ist, wie Sellers im Film zwei komplett unterschiedliche Persönlichkeiten spielt: einmal den erfolgsverwöhnten Dramaturgen Clare Quilty mit seiner affektierten Hornbrille, immer in Begleitung einer Frau, immer mit überbordendem Selbstbewusstsein, voll überlebensgroßem Selbstanspruch; und dann einen zweiten Mann, den Quilty gegenüber Humbert spielt: einen deutschstämmigen Schulpsychologen, mit einer Art Hitler-Bärtchen und zentimeterdicken Brillengläsern, der dem vermeintlichen Vater einreden will, die Tochter zugunsten ihrer psychischen Gesundheit doch bitte auf sexuelle Erkundungsreise gehen zu lassen.
„Lolita“ ragt aus den 1960er Jahren sicherlich weniger heraus als andere Produktionen. Aber er ist glänzend gespielt und inszeniert – so sehr, dass ihm die Zeit weit geringer zusetzt als anderen Werken dieser Dekade.
TextRobert Lorenz
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