Filmtipp

Real Life (1979)

Kurzbeschreibung: Mit „Real Life“ schuf Albert Brooks am Ende der Siebziger eine ungemein bissige Mediensatire, die den ausbeuterischen Voyeurismus des Reality-TV offenlegt.

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Am Ende steht alles in Flammen, und zwar buchstäblich. Albert Brooks – Regisseur, Dreh­buch­autor und Hauptdarsteller in Personalunion –, der im Film obendrein unter seinem echten Namen auftritt, zündet in seinem Wahnsinn das Haus der Familie Yeager an, die er zuvor monatelang mit seinen Kameras ausgeleuchtet und psychisch malträtiert hat. Zu Beginn des Films ist alles noch ganz anders: Da haben sich die Yeagers mit zahllosen anderen Familien einem absurden Assessment ausgesetzt, um Teil von Brooks’ größenwahnsinnigem Projekt zu werden.

Was heute TV-Formate wie „Big Brother“ oder „Dschungelcamp“ als normalen Bestandteil des Fernsehprogramms zeigen, stellte „Real Life“ Ende der 1970er Jahre als pervertierte Form kommerzieller Unterhaltung dar. Albert Brooks konzipierte damals eine erschreckend realistische Satire auf die moderne Fernsehkultur, in der die letzte Stufe der Programmplanung darin besteht, mit wirklichen Schicksalen von Menschen möglichst viel Geld zu verdienen. Der Film-Brooks – auf Ruhm, Geld und Erfolg aus – tarnt dieses moralfreie Unterfangen freilich als besonders wertvollen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt.

Brooks beim Casting hinter einer Wand, mit dem Gesicht zur Kamera gerichtet.

Die Idee des umtriebigen Filmemachers besteht darin, zwölf Monate lang das Leben einer amerikanischen Durchschnittsfamilie möglichst detailliert auf Filmmaterial zu dokumentieren – denn nirgendwo würden sich filmreifere Tragödien und Glücksgefühle ereignen als in der Realität. Aus diesen realistischen Aufnahmen will Brooks dann stichhaltige soziologische Erkenntnisse über das Leben der Amerikaner gewinnen. Um das ganze Spektakel mit Seriosität aufzuladen, sollen zwei promovierte Psychologen (J.A. Preston und Matthew Tobin) die Dreharbeiten begleiten. Allerdings zeigt sich sehr schnell, dass Brooks die beiden wissenschaftlichen Experten lediglich zu seiner eigenen Legitimation verpflichtet hat; sie sollen seiner Vision akademischen Rang verleihen. Brooks wird später sämtliche ihrer Ratschläge und Warnungen, die ihm unpassend erscheinen, einfach ignorieren.

Brooks im Wohnzimmer mit den Yeager-Eltern, mit einer bestimmenden Geste.

Für das Casting der idealen Probanden wird ein absurder Aufwand betrieben: Mit dem Anschein wissenschaftlicher Validität finden sich hunderte Familien, die sich beworben haben, in einem Sozialforschungsinstitut ein, um sich zahllosen Tests zu unterziehen – von einer digitalen Messung des „Charisma-Faktors“ bis hin zur Überprüfung der Einparkqualifikationen (um später das Sicherheitsrisiko der Kameraleute im Fahrzeug zu minimieren). Auserwählt wird schließlich die Familie Yeager aus Phoenix, Arizona. Deren Mitglieder sollen nun ein Jahr lang während ihres gesamten Alltags gefilmt werden.

Ein Kameramann umschwirrt den Esstisch, an dem Mrs. Yeager zu sehen ist.

Während sie beim Abendessen sitzen, von Brooks angehalten, sich trotz der außergewöhnlichen Situation völlig normal zu verhalten, schleichen um den Tisch zwei Kameramänner – auf ihrem Kopf tragen sie den grotesk futuristisch anmutenden „Ettinauer“: ein hypermodernes Aufnahmegerät aus weißem Plastik, von dem weltweit angeblich nur wenige Exemplare existieren und das wie der Bestandteil einer Astronautenkluft aussieht. Gefilmt werden aber nicht nur die Familienmitglieder, sondern auch Brooks und seine psychologischen Berater.

Produzent Brooks malt sich in seinen Gedanken bereits großartige Szenen zum Thanksgiving-Dinner oder zu Halloween aus – dabei stets die Präsentation vor großem Publikum vor Augen. Aber das völlig überambitionierte Projekt entpuppt sich als Totalüberwachung, die binnen kurzer Zeit in einem völligen Desaster endet. Denn Brooks will am liebsten alles sehen: Wenn Mrs. Yeager (Frances Lee McCain) zum Gynäkologen aufbricht, befindet sich Brooks voller Euphorie in ihrem Schlepptau; und als der Tierarzt Mr. Yeager (Charles Grodin) ein malades Show-Pferd operieren soll, hat er kurz darauf seinen Patienten auf dem Gewissen, weil er sich von der allgegenwärtigen Kamera hat irritieren lassen. Brooks’ bald krankhaftes Bemühen um eine quotentaugliche Dramaturgie erschüttert das Berufs- und Privatleben der Yeagers und gefährdet das gesamte Projekt; obendrein sitzt Brooks ein Old-School-Hollywood-Produzent im Nacken, der nicht einmal für die grundlegende Projektidee Verständnis aufbringt und die künftigen Kinoeinnahmen schwinden sieht, weil der potenzielle Film keinen „Namen“ vorzuweisen habe („Where is Nicholson?“).

Das Filmteam und die Yeagers stehen auf der Straße eines suburbanen Wohnviertels.

Mit „Real Life“ parodierte Brooks die PBS-Sendung „An American Family“ aus dem Jahr 1973: eine wöchentliche Fernsehdokumentation des Lebens der kalifornischen Familie Loud, die als erste Realityshow gilt; während der Aufnahmen trennten sich die Eltern und der älteste Sohn outete sich als homosexuell. Nur kurze Zeit später kopierte die BBC das Format mit dem Leben einer britischen working-class-Familie („The Family“, 1974).

Nauaufnahme eines Mr. Yeager mit strahlendem Lächeln und einem Gartrenschlauch, aus dem Wasser strömt.

Real Life“ demaskiert die Fratze eines Showbusiness, das Menschen allein wegen der bloßen Aussicht auf nationale TV- und Leinwandprominenz verführt, sich vor der Kamera zu entblößen – ein Geschäft, das sich keinerlei Schranken mehr auferlegt. Und Brooks, der einen unfassbar gierigen Voyeurismus praktiziert, ist darin Täter und Opfer zugleich. Wunderbar zynisch ist die Szene, in der Brooks das sensationslüsterne Reporterteam eines lokalen TV-Senders aus dem Haus der Yeagers komplimentiert, indem er mit dem Hinweis auf Copyrights und der Drohung mit Anwälten sein Monopol auf die kommerzielle Ausbeutung der Familie verteidigt. Die Flammen lodern da schon fast.

Familie Yeager beim Essen zu Tisch.

Text verfasst von: Robert Lorenz