Touch of Evil (1958) [1998]
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Wenn man „Touch of Evil“ sieht, mag man gar nicht glauben, dass er inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist. Und doch ist er es auch wieder nicht. Denn „Touch of Evil“, einer der letzten klassischen Noir-Filme, zehn Jahre nach dem Genre-Zenit gedreht, zugleich einer der besten dises Faches, überhaupt: der Filmgeschichte, liegt in mehreren Versionen vor. Und die Version, die das Kinopublikum Ende der 1950er Jahre zu sehen bekam, war beileibe nicht die Version, die sich der Regisseur (und Hauptdarsteller) gewünscht hatte.
Weil das Studio – Universal – den Film entgegen seiner Vision geschnitten hatte, verfasste Orson Welles damals ein 58-seitiges Memorandum, in welchem er seine Sicht der Dinge darlegte. Der Film kam, wie gesagt – und darin liegt die Künstlertragik –, natürlich unkorrigiert in die Lichtspielhäuser. Aber die Kinohistorie hatte Erbarmen mit dem Schöpfer von „Citizen Kane“ (1941) und rehabilitierte sich ein Jahrzehnt später. Auf Grundlage von Welles’ Instruktionen wurde der Film dann Ende der 1990er Jahre restauriert. Mit einem Abstand von vierzig Jahren sprach Welles, 1985 verstorben, über die Zeilen seines Memos zu den Filmexperten, die nun mit viel Leidenschaft und Akribie versuchten, das einst geschundene Werk im Sinne seines Schöpfers zu rekonstruieren.
„Touch of Evil“ beginnt mit einer spektakulären Kamerafahrt, die in unfassbarer Dynamik (und in der „neuen“ Version ohne störende credits) eine minutenlange Sequenz inmitten einer Stadt an der texanischen Grenze zu Mexiko zeigt. Allein diese Eröffnung macht den Film sehenswert, verleiht ihm eine unfassbare Leichtigkeit und zieht die Zuschauer unweigerlich ins Geschehen hinein – obwohl auf den Straßen, die gezeigt werden, nichts, aber auch gar nichts Besonderes geschieht.
Die Story sog Welles aus der pulp novel „Badge of Evil“ – wobei es sich aufgrund von Welles’ eigenen Ideen aber mehr um eine inspirierte Anlehnung denn eine Verfilmung handelt. Vordergründig geht es um einen Mordfall und um die Machenschaften eines verdienten Kommissars, des fettleibigen, trockenen Alkoholikers Quinlan, dem ein mexikanischer Kollege auf die Schliche kommt. Aber viel mehr als diese eher gewöhnliche, schon damals nicht sonderlich originelle Geschichte ist der Film ein atmosphärisches Meisterwerk, das mit seiner schwungvollen Kameraführung und extremen Close-ups, die beinahe wie anatomische Vivisektionen der Charaktere wirken, eine fantastische Dynamik und Dichte erreicht. Mit geringen Mitteln entfaltet „Touch of Evil“ eine schier unwirklich moderne Aura, die man seinem Entstehungsjahr nicht zugetraut hätte. Die Kamera ist mitunter so nah an den Charakteren, so häufig in engen Situationen wie einem voll besetzten Fahrzeug, einer dicht gedrängten Menschengruppe in einem engen Raum oder unterwegs auf der Straße, dass man bisweilen als Zuschauer förmlich in diesem Film drin steht.
Dabei ist seine Entstehung, wie so oft, reine Glückssache gewesen. Orson Welles zufolge habe man ihm damals mehrere Drehbücher angeboten und er habe sich für das mieseste entschieden, um dann beim Dreh seine ganze Klasse zu beweisen – mit dem Kontrast, wenn er aus einer schlechten Vorlage einen grandiosen Film hervorzaubern würde. Nach Charlton Heston, dem zweiten Hauptdarsteller, sei diesem das Drehbuch geschickt worden und als er erfuhr, dass Welles für die Rolle des Kriminalkommissars vorgesehen sei, habe er, Heston, vorgeschlagen, Welles doch auch die Regie zu geben. Und weil Heston damals mit seiner Rolle als Moses in „The Ten Commandments“ (1956) gerade in die Beletage der Traumfabrik aufgestiegen war, die Produzenten und Studiomanager ihm – dem neuen Star am Firmament Hollywoods – also allerhand Gefälligkeiten zu erweisen bereit waren, um ihn für die Hauptrolle zu bekommen, konnte Welles dank Hestons Einfluss und Gunst auf den Regiestuhl zurückkehren.
Gleichviel: Die Universal wollte einen konventionellen Polizei-Thriller, einen starbesetzten Krimi; Welles dagegen hatte eine künstlerische Vision, was natürlich eine ganz andere Ambition war, als mit wenig Aufwand und bekannten Namen im Rahmen herkömmlicher Methoden schnell viel Geld zu verdienen. Als Welles seinen Auftraggebern dann die Rohfassung vorlegte, offenbarte sich diese Kluft. Ohne den Regisseur darüber zu informieren, wurden Szenen nachgedreht, andere herausgeschnitten, Welles’ rough cut vernichtet. Was ihm das Studio dann präsentierte, muss Welles erschüttert haben; denn es widersprach ganz und gar seinen Vorstellungen – o sehr, dass Welles sogleich besagtes 58-seitiges Memorandum verfasste, in dem er minutiös seine Vision von „Touch of Evil“ darlegte.
Die Hollywood-Geschichte ist eben auch eine Geschichte der häufigen Verzweiflung, vor allem die der Regisseure. In den 1960er Jahren erwischte es viele von ihnen; aber der prominenteste, der seine Enttäuschung und Wut über die final cuts der Studios öffentlich aussprach und sich damit zum Enfant terrible, eine Zeit lang sogar zur Persona non grata machte, war Sam Peckinpah, dessen Filme oft verstümmelt worden waren. Und 1957/58 erwischte es eben Welles, dessen Werk auf 96 Minuten zusammengestutzt wurde. Diese Version war über viele Jahre die einzige, die in Kino und TV zu sehen war. Und weil Welles’ ursprüngliche Filmversion nicht mehr existiert, wird sich wohl nie sagen lassen, wie „Touch of Evil“ mit Welles’ final cut ausgesehen hätte. Auch das trägt zur faszinierenden Aura dieses Films bei.
Orson Welles spielt den amerikanischen Kriminalkommissar Hank Quinlan, einen profilierten und geachteten Routinier, mit allen Wassern gewaschen, ein Workaholic, dem das Leben außer der Kriminalitätsbekämpfung, dem ständigen Umgang mit Abschaum und verwerflichkeit, nichts gelassen hat. Seine Frau wurde stranguliert (laut Quinlan die perfekte Mordmethode: „You don’t leave fingerprints on a piece of string.
“); und nach ihrem Tod wurde der Cop zum Alkoholiker. Seit mehr als einem Jahrzehnt trocken, ist er ein fanatischer Fahnder, der keinen mehr entkommen lassen will.
Das Trauma seines Verlustes hat ihnd deformiert: Seit ihm der Killer damals entwischte, wendet Quinlan jede noch so dreiste Manipulation an, um Verdächtige zu überführen und einzubuchten. Wenn Quinlans „hunch
“ ihm den wahren Täter nahelegt, lässt er die Beweise fälschen („aiding justice
“) und hat sich damit freilich selbst in unzähligen Fällen zum Kriminellen gemacht, zum selbstherrlichen Richter über das Schicksal Anderer. Die ganzen Fälle, auf denen Quinlans Ruf als präziser Ermittler und redlicher Wahrer des Gesetzes gründet, endeten mit einer verdrehten Beweisführung. Nicht die Äxte und Dynamitstangen, die angeblich die Schuld der Beschuldigten belegten, sondern Quinlans Intuition gab den Ausschlag, sein „hunch
“, sein im Film immer wieder beschworenes „game leg“. Und das ist auch hinterher seine unumstößliche Überzeugung, ohne Aussicht auf Läuterung: „Every last one of ’em: guilty.
“
Welles porträtiert diese moralisch verdorbene Figur als bizarre Gestalt: Gestützt auf einen Gehstock wankt der übergewichtige, fettleibige Quinlan, der stets eine Zigarre zwischen den Lippen klemmen hat, durch die Szenen, brüllt und raunt in selbstherrlicher Autorität seine Befehle – und seine Untergebenen bewundern ihn, himmeln ihn an (zwischen Quinlan und seinem Gehilfen Pete Menzies (Joseph Calleia) besteht sogar eine tragische Liebe). Und gerade dieser wuchtige Kerl mit dem feisten Gesicht trifft auf den distinguierten Mike Vargas (Charlton Heston), mit seinem akkuraten Schnurrbart und dem athletischen Körper, an dem kein einziges überflüssiges Gramm Fett ist. Orson Welles beleuchtet die degenerierte Physis seines Hauptdarstellers – sich selbst – so konstant und akribisch, dass es einer grotesken anatomischen Vivisektion gleicht. Manchmal meint man, dass sich darunter der „Ciziten Kane“-Welles mit seinen weichen, fast kindlichen Gesichtszügen verbirgt, camoufliert mit einem Fatsuit und viel Puder.
Heston spielt einen mexikanischen Drogenfahnder, der auf Hochzeitsreise ist (Janet Leigh spielt seine Frau Susan). Jemand will ihn ausschalten, damit er nicht bei einem Prozess aussagen kann. Als eine Autobombe – in Mexiko angebracht – im US-Teil der Stadt explodiert, beteiligt sich Vargas an den Ermittlungen, die Quinlan leitet. Der mexikanische Mann des Gesetzes will sich von seinem amerikanischen Kollegen nicht unterkriegen lassen, will zudem die finstere Wahrheit ans Licht bringen, der er sich allmählich nähert und muss sich dann auch noch vom Odium falscher Anschuldigungen reinwaschen. Mit seiner ganzen Unnachgiebigkeit und seinem verlässlichen Gespür für die Leichen im Keller Anderer sucht Vargas schließlich nach stichhaltigen Beweisen für Quinlans heimliche Manipulationen.
Quinlan symbolisiert die alte Vorstellung von der Herrschaft der Weisen und Schlauen – und deren Dilemma, am Ende doch nicht vor Irrtümern gefeit zu sein und keiner Kontrolle zu unterliegen. Vermutlich erwischte Quinlan in den meisten Fällen tatsächlich die Richtigen; aber die Mordwerkzeuge, welche die Täter überführten, hatte er selbst drapiert und damit eigenmächtig für die Beweise gesorgt. Für die örtlichen Autoritäten ist Quinlan indes ein hochrespektierter Mann, ein vorbildlicher Polizist und erfolgreicher Ermittler. Als ihn Vargas gegenüber den Verantwortlichen, die gegen Quinlan vorgehen könnten – und müssten –, beschuldigt, empört sich Quinlan mit all seiner Täuschungskunst und lässt Vargas als unverfrorenen Troublemaker dastehen.
Neben Heston und Welles ist „Touch of Evil“ voller stark besetzter Rollen: Joseph Calleia als Polizei-Sergeant, dessen Loyalität zu Quinlan ihn vor eine Zerreißprobe stellt; Akim Tamiroff als verkappter Gangster Joe Grandi; Janet Leigh, die zwei Jahre vor ihrem Auftritt in Hitchcocks „Psycho“ (1960) in einem unheimlichen Motel eincheckt; und Dennis Weaver, der Verfolgte aus Spielbergs „Duel“ (1971) , als furchtsamer, leicht durchgeknallter Motelmanager. Und schließlich, wie als göttliche Dreingabe zu diesem ohenhin famosen Ensemble: Marlene Dietrich. Gleich in ihrer ersten Szene zündet sie sich einen Zigarillo an und ist anschließend, wie in einem Dietrich-Klischee, stets in eine zarte Rauchwolke eingehüllt. Ihre Rolle: die Puffmutter Tana. Als Zuschauer weiß man natürlich längst, dass es mit dem übergewichtigen, alkoholkranken, seelisch zerrütteten Kommissar nicht mehr lange so weitergehen wird. Aber aus dem Gesicht der Dietrich erhält diese Gewissheit eine ganz andere Note. Quinlan fragt Tana, die auch Wahrsagerin ist, nach seiner Zukunft und sie antwortet ihm: „You haven’t got any. Your future is all used up. Why don’t you go home?
“
In „Touch of Evil“ wird die unscheinbare Grenzstadt zu einem Nexus der Niedertracht: Der renommierte Ermittler ist in Wirklichkeit eine moralisch gescheiterte, tragische Existenz; er verbündet sich mit einem ruchlosen Geschäftsmann, um das Vargas-Ehepaar zu diskreditieren; der Geschäftsmann wiederum ist zu allem bereit, um seinen Bruder, der in Mexiko als Drogenboss verurteilt werden soll, vor Vargas und dessen Aussagen zu schützen. Am Ende gibt es nur Verlierer, unterschiedlicher Grade. Einige verlieren ihr Leben; andere blicken tief in menschliche Abgründe.
Welles zeigt auch das visuell: Angeschossen kippt Quinlan ganz zum Schluss in die Kloake, treibt als Leiche zwischen Müll und Dreck. Die Bordellbesitzerin und der Staatsanwalt (Mort Mills) beobachten dies von der Brücke aus, und Tana spricht die letzten Worte des Films, die genauso lapidar sind, wie die soeben ausgelöschte Existenz für das Weltgeschehen marginal ist: „Well, Hank was a great detective, all right. And a lousy cop. […] Waht does it matter what you say about people?
“
TextRobert Lorenz
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