Mona Lisa (1986)
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Ein ungehobelter Cockney-Kraftprotz, der gerade aus dem Knast entlassen worden ist, und ein Callgirl sind das Paar dieses Films von Regisseur Neil Jordan. Prostitution mag zwar das älteste Gewerbe der Welt sein; doch das bedeutet noch lange nicht, dass sie die Potenziale des technischen Fortschritts ignoriert. So ist Simone (Cathy Tyson in ihrem Filmdebüt) längst mobil – die Straße benutzt das Edel-Callgirl nur noch zur schnellen Fortbewegung, den Platz am Bürgersteig hat sie hinter sich gelassen. Damit sie möglichst diskret und flink in die Betten ihrer betuchten Kunden aus der Londoner upper class gelangt, hat ihr Boss einen Fahrer engagiert: den Ex-Kriminellen George (Bob Hoskins). In einem cremefarbenen Jaguar fahren die beiden ungleichen Charaktere durch Londons Nächte.
Während Simone ihren Liebesdienst verrichtet, wartet George untätig in der Hotellobby oder im Auto, geparkt vor Anwesen, so fein und kolossal wie Schlösser. Damit er nicht den Verdacht der Angestellten des Luxushotels erregt (und nicht peinlich wirkt), beordert Simone den beispiellos schlecht angezogenen Ex-Gangster erstmal zum Herrenausstatter – so weichen die rote Lederjacke und das Hawaiihemd einem grauen Dreiteiler mit schwarzem Mantel. Kleider machen Leute: Selten konnte man dies so bestätigt sehen, wie im Outfitwechsel des ehemaligen Kleinganoven George. Das hält ihn natürlich nicht davon ab, in übelstem Slang Leute anzupöbeln und mit all seinem Unterschicht-Temperament zu explodieren.
Simone und George können sich anfangs nicht ausstehen, ein Hauen und Stechen – verbal wie physisch. Doch nach einigen gemeinsamen Abendschichten hat sich so etwas wie Sympathie zwischen den beiden eingestellt und Simone bittet ihren rüden, aber zutraulichen und überdies schlagkräftigen Fahrer, nach einer verschollenen Freundin, einer Prostituierten namens Cathy, Ausschau zu halten. Ergriffen von Simones ehrlicher Fürsorge – und ohnehin ein Kerl mit dem Herz am rechten Fleck – beschließt George, sich im Rotlichtmilieu von Soho umzusehen, geht (musikalisch begleitet vom Genesis-Titelsong „In Too Deep“) in billige Peepshow-Lokale, steigt hinab in düstere Sexklubs und sucht schmuddelige Puffs auf, in denen er verzweifelte Frauen und deren widerliche Zuhälter trifft – eine Tour de Force durch die Londoner Unterwelt (der Realismus ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass für die Szenen am Straßenstrich echte Prostituierte engagiert wurden). Als George dann tatsächlich auf Cathys Spur kommt, beginnt für ihn eine Mission, die ein unheilvolles Ende verheißt.
Anhand dieser Sequenzen zeigt sich übrigens die Qualität von Jordans Film, der auch ein stilprägendes Exempel des britischen New Cinema ist. Müsste diese audiovisuelle Montage, in der die Hauptfigur zu den melancholischen Klängen eines Kitschsongs und in der Pose eines ritterlichen Solitärs durch eine feindselige Umgebung zieht, eigentlich doch ganz und gar klischeehaft und oberflächlich wirken, ist sie davon tatsächlich jedoch weit entfernt. Neil Jordan entführt seine Zuschauer in „Mona Lisa“ – gedreht noch einige Jahre vor seinem großen Hit „The Crying Game“ aus dem Jahr 1992 – an die Ränder der (britischen) Gesellschaft: an zwar unsichtbare, nichtsdestotrotz allgegenwärtige Orte des Schreckens, ein Tugendvakuum der Ausbeutung, des Lasters – ein misanthropischer Mikrokosmos, in dem Gier und Angst die Triebfedern menschlichen Handelns sind, in dem die untersten Hierarchieglieder in ihrer Würde nicht stärker erniedrigt werden könnten und ein prügelnder Ex-Häftling – George – einer der wenigen Aufrichtigen ist.
Von den zahllosen Tourismusattraktionen, die London zu bieten hat, wird indes keine einzige gezeigt. Junge, zumeist minderjährige Frauen begeben sich für Drogengeld in die Fänge sadistischer Zuhälter und Freier, von denen sie schlechter behandelt werden als industriell hergestellte Waren. In „Mona Lisa“ sind die einzigen halbwegs anständigen Leute George, dessen Tochter und sein Mechaniker-Kumpel, der in einer Werkstatt an alten Karren rumschraubt und mit sonderbarem Krempel handelt (Robbie Coltrane, auch im wirklichen Leben passionierter Oldtimer-Fahrer, später Darsteller des Ex-KGB-Agenten Valentin Zukovsky in den beiden Pierce-Brosnan-Bonds „GoldenEye“ (1995) und „The World Is Not Enough“ (1999) sowie als Rubeus Hagrid in den „Harry Potter“-Filmen).
Ihre Gegenspieler sind egozentrische Kriminelle, die Jordan hervorragend besetzt hat: Clarke Peters (u. a. „The Wire“) treibt als messerstechender Mr. Anderson sein Unwesen und Michael Caine tritt auf als unheimlicher Gangsterboss Mortwell – eine von Caines besten Rollen. Insbesondere die Entscheidung, den bedrohlichen Unterweltfürsten mit Caine zu besetzen – der damals im Unterschied zu allen anderen im „Mona Lisa“-Cast ein Filmgigant war –, ist gelungen, spielt Caine doch einen dieser fiesen Charaktere, die er normalerweise in seinen Hauptrollen bekämpft, und handelt es sich hier bereits um den sichtlich gealterten Caine, der mit Bierbauch und zurückgewichenem Haaransatz lange nicht mehr der stramme britische Kolonialoffizier aus „Zulu“ (1964), der smarte Agent Harry Palmer oder gar der unwiderstehliche Frauenverführer „Alfie“ (1966) ist.
Hoskins indes erhielt für seine energische Performance eine „Oscar“-Nominierung als bester Hauptdarsteller und gewann in der gleichen Kategorie 1987 einen „Golden Globe“ (ursprünglich war der Schotte Sean Connery für die Rolle vorgesehen). Um ihn mit seinem brachialen Arbeiterklassenakzent zu verstehen, sollte man selbst bei guten Englischkenntnissen die Untertitel einschalten – trotzdem sprach Hoskins nur zwei Jahre später in „Who Framed Roger Rabbit“ (1988) so perfekt amerikanisches Englisch, dass ihn das US-Publikum für einen Schauspieler aus dem eigenen Land hielt.
Auch wenn „Mona Lisa“ für die meisten Filmcharaktere im Desaster endet – romantische Illusionen werden ebenso zerschlagen wie menschenverachtende Geschäftspraktiken –, gibt es so etwas wie ein Happy End – allerdings keines im amerikanischen Stil, über das sich später Regisseur Robert Altman in seiner Hollywood-Persiflage „The Player“ (1992) lustig macht.
TextRobert Lorenz
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