Millionen-Raub (1967)
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Der 1964er Jaguar MK II brettert mit vollem Karacho durch die Londoner Innenstadt. Das englische Edelfahrzeug dröhnt über den Asphalt, biegt sich um Kurven, dicht verfolgt von der Polizei, die ebenfalls im Jaguar unterwegs ist. An einer Stelle überquert eine Rotte Schulkinder die Straße und wird beinahe von den Fluchtrasern überfahren – Schnitt auf ein gerettetes, jedoch weinendes Kind; dann Schnitt auf den Fahrer, über dessen Gesicht sich ein zufriedenes Grinsen legt – insgesamt eine irre Sequenz. Der Rennfahrer und Regisseur Peter Yates hat sie inszeniert. Steve McQueen sah sie und engagierte Yates sofort für seinen nächsten Streifen – „Bullitt“, mittlerweile ein Synonym für die ultimative Autoverfolgungsjagd im Film.
Die Eingangssequenz von „Millionen-Raub“ demonstriert uns die Akribie und die Geschlossenheit der Londoner Gangster, die quasi der Protagonist dieses Kriminalthrillers aus den späten Sechzigern sind. Nach einer offenkundig langwierigen Vorbereitung überfallen sie buchstäblich mitten auf der Straße der britischen Hauptstadt einen älteren Mann, der in einem Wagen mit seinem Chauffeur unterwegs ist und einen Koffer mit Geld und Diamanten bei sich trägt. Was folgt, ist besagte Hetzfahrt, eine der spektakulärsten Verfolgungsjagden, die jemals in einer Millionenmetropole gedreht worden sind. Die beiden Fahrzeuge – zwei Jaguar-Limousinen, die der Gangster silbergrau, die der Polizisten schwarz – fegen völlig ungeachtet des übrigen Verkehrsgeschehens über den Asphalt; und man sieht, wie sie sich im Geschwindigkeitsrausch gerade so auf der Fahrbahn halten können. Über den Polizeifunk erfahren wir die Locations; der Beifahrer im Fluchtauto gibt dem Fahrer die Richtung vor; William Marlowe zeigt ihn mit seinem Zahnfleischgrinsen, als empfinde er just in diesem Moment den größten Spaß seines Lebens. Die Präzision, mit der die Gangster bei diesem Coup vorgehen, ist erschreckend und liefert natürlich einen Vorgeschmack auf den eigentlichen Heist, um den es in „Millionen-Raub“ gehen wird.
Der wiederum lehnt sich an die „Great Train Robbery“ ein paar Jahre zuvor, im August 1963, an. Eine Bande aus anderthalb Dutzend Ganoven erbeutete damals aus einem Zug der Royal Mail, unterwegs aus dem schottischen Glasgow in die britische Hauptstadt, mehr als 2,5 Mio. Pfund, was heute in etwa 65 Mio. Euro entspricht. Der große Postzugraub war selbstredend eine ebenso große Sensation – erst recht, als kurz darauf die meisten der Räuber geschnappt wurden. Einige von ihnen kamen zu stattlicher Prominenz; über Ronald „Buster“ Edwards (1931–94) wurde zwanzig Jahre später sogar ein Film gedreht: „Buster“ (1988), mit Phil Collins in der Hauptrolle.
„Millionen-Raub“ adaptierte also zeitnah ein öffentliches Kriminalspektakel. Aufgrund der Eigenheiten des britischen Rechtssystems durfte jedoch unter keinen Umständen irgendeine Parallele zu den realen Kriminellen aufkommen. Schon die geringste Identifikation mit einem der Häftlinge hätte fürchterliche Klagen nach sich ziehen können. Monatelang klopften daher Anwälte das Vorhaben auf Probleme ab. Woodfall-Manager Michael Deeley verließ sogar Englands einst innovativste Produktionsstätte, nachdem deren Köpfe das Projekt abgelehnt hatten. Eine größtmögliche Distanz zu den echten Menschen hinter den Ereignissen zu wahren, widersprach freilich dem Bestreben der Filmemacher, maximale Authentizität zu erreichen – insbesondere vor diesem Hintergrund ist das Resultat umso beeindruckender.
Im Mittelpunkt des Films stand sein Star, Stanley Baker (1928–76). Baker war freilich kein Hollywoodgigant vom Schlage eines Burt Lancaster oder Kirk Douglas. Aber in Großbritannien gehörte er doch zu den bekanntesten Filmgesichtern – und was war das für ein Gesicht: Der dichte Schnauzbart, die kurzen Koteletten und die strenge Frisur verliehen ihm eine John-cleesige Unscheinbarkeit, etwas Bürokratisches, Langweiliges; aber die Connery-ähnliche Augenpartie machten daraus doch etwas ganz anderes: einen Halunken, einen Kopf voll alerter Kriminalität, immer auf der Suche nach dem nächsten großen Ding, das sich drehen ließe, und auf der Hut vor der Polizei, deren Spitzel schließlich überall lauern könnten.
Das passte zu den Unterweltverbindungen, die man Baker nachsagte und die seinen „Millionen-Raub“-Gangster noch einmal einen Tick zusätzliche Glaubwürdigkeit verliehen – auch wenn sie angeblich nicht stimmten. Weil Baker aber neben seinen Verbrechern auch Polizisten gespielt hatte, so will es die Dreharbeitslegende, hätten die Londoner Gesetzeshüter mehr als ein Auge zugedrückt, wenn Yates’ „Millionen-Raub“-Crew es wieder einmal mit dem riskanten Location shooting zu toll trieb.
Die Szenen, in denen Bakers Mastermind Paul Clifton auftaucht, sind jedenfalls mit unterschwelliger Bedrohlichkeit aufgeladen. Clifton ist kein Don Corleone und ganz sicher auch kein Tony „Scarface“ Montana; aber niemand kann auch nur den Bruchteil einer Sekunde daran zweifeln, dass Clifton im Ernstfall kurzen Prozess macht. Bakers Performance entschädigt insofern für entgangene Darbietungen – so lehnte Vanessa Redgrave die Rolle von Bakers Filmfrau ab, Hollywood-Altstar George Raft war wegen seiner Mafiakontakte in London unerwünscht und die in New York bereits gedrehten Szenen mit Jason Robards fielen der Schere zum Opfer. Fast die Hälfte des Cast-Budgets und knapp zehn Prozent der gesamten Produktionskosten verschlang denn auch Stanley Bakers eigene Gage.
Ähnlich minutiös wie der Überfall im Film wurden die Dreharbeiten geplant und ausgeführt. Ohnehin hatte vieles am Projekt etwas von der kühnen Schurkenhaftigkeit der Zugräuber – was Yates und seine Crew in der britischen Kapitale drehen wollten – Verfolgungsjagden durch halb London, Aufnahmen in einem vollbesetzten Fußballstadion während eines echten Spiels –, grenzte für Branchenexperten an hellen Wahnsinn und machte das schließlich doch noch erteilte Finanzierungsokay der Geldgeber zu einem kleinen Wunder.
Das Charmante an „Millionen-Raub“ sind die En-passant-Ereignisse, die im Unterschied zum Gros anderer Filme dramaturgisch nicht aufgelöst werden – etwa als ein Komplize, eigens als Lokführer angeheuert, nach mehreren Fehlversuchen gesteht, er könne den Zug wohl nicht starten – irgendetwas sei anders damit –, dann einfach beiseitegeschoben wird und man den kurz zuvor noch in Richtung Bewusstlosigkeit ausgeschalteten Zugführer zurückholt, ohne dem Versager ein gebührendes Gangsterfilmschicksal mit tödlicher Bestrafung zu bescheren. „Millionen-Raub“ war weder ein Kassenknüller noch schaffte er es in den cineastischen Kanon. Erst stand er im Schatten anderer britischer Krimis wie „Get Carter“ (1971), dann verschwand er schließlich in der filmhistorischen Versenkung – dabei lässt er sich heute mithin cineastisch als britische Weiterentwicklung des französischen „Rififi“ (1955) und als Prolog auf „The Long Good Friday“ (1980) würdigen.
TextRobert Lorenz
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