Früchte des Zorns (1940)
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Der Motor surrt und am Wegesrand blicken bleiche Gesichter auf, harren Menschen aller Altersgruppen wie Statuen vor ihren provisorischen Zelten und Verschlagen – ein stoisches Spalier des Schreckens, ein Albtraum aus Pappe und Wellblech. Beharrlich bahnt sich der kleine Truck der Familie Joad aus Oklahoma seinen Weg durch das Lager im kalifornischen Hinterland, das voll von Menschen wie ihnen selbst ist: Wirtschaftsflüchtlingen aus dem Süd- und Mittleren Westen, aus ihrer Heimat vertrieben von verheerenden Sandstürmen und erbarmungslosen Kreditinstituten. Wie zum Hohn dieser ganzen Szenerie modernen Elends kleben an den schrottreifen Fahrzeugen „Sale“-Schilder – wo doch hier niemand mehr als eine Handvoll Cents in den Taschen hat. Die Köpfe, die sich den Neuankömmlingen in einer seltsamen Mischung aus Neugier und Bedauern entgegenrecken, sind die Häupter von Menschen am oder unter dem Existenzminimum. Noch vor ein paar Monaten oder vielleicht sogar bloß Wochen standen sie auf dem Boden ihrer Farmen oder hinter den Tresen ihrer Krämerläden; jetzt aber sind sie Entwurzelte der mit einem Mal untergegangenen Agrargesellschaft des US-amerikanischen Heartland. Die Notdürftigkeit ihrer armseligen Behausungen ist die Signatur der bedauernswerten Existenz dieser Menschen. „Früchte des Zorns“ ist ein strapaziöser Roadtrip der Verdammnis; im Zeichentrickuniversum wäre er nie von Disney, sondern allerhöchstens von Don Bluth. Und viel schlimmer noch als diese Bilder erodierter Zivilisation, die wir als Zuschauer:innen aus der Perspektive der Fahrgastzelle des Joad-Vehikels erleben, ist die Erkenntnis, dass dies keine Fiktion, sondern die Realität der 1930er Jahre in den USA ist.
„Früchte des Zorns“ ist einer der Filme, die längst umstandslos zu den Klassikern des Kinokanons gerechnet werden; schon bei den Academy Awards 1941 war er als Bester Film nominiert, 1989 nahm ihn die Library of Congress in ihr erlauchtes Verzeichnis erhaltenswerter Filme auf, das American Film Institute (AFI) listet ihn in seinen Top 100 der größten US-Produktionen aller Zeiten auf Rang 21 und Roger Ebert, der vielleicht bekannteste Filmkritiker, zählt ihn zu seinen persönlichen „Great Movies“. Auch finanziell war „Früchte des Zorns“ ein voller Erfolg; der Fox, deren Produktionschef Darryl F. Zanuck das als kinokassenunverträglich geltende Projekt unter seine Fittiche genommen hatte, spielte er seinerzeit viel Geld ein. Natürlich sieht man dem Film inzwischen sein Alter an: Die Optik, das Schauspiel, nahezu alle Facetten dieses Dramas verraten seine Herkunft aus dem Golden Age of Hollywood. Lediglich durch seinen weitgehenden Verzicht auf eine Musikuntermalung hebt sich „Früchte des Zorns“ mit einer bedächtigen Stille vom aufbrausenden Orchestergebrüll nahezu aller anderen zeitgenössischen Produktionen ab. Doch ist „Früchte des Zorns“ weitaus mehr als bloßes Pflichtprogramm für Cineast:innen oder moderne Bildungsbürger:innen, denen nicht nur Lektüre, sondern auch Film-„Sichtungen“ etwas bedeuten. Denn der Film lädt ein zum Blick auf gleich mehrere Aspekte: die drastischen, gesellschaftszersetzenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten während der 1930er Jahre; das Wagnis eines Studiobosses, Kinounterhaltung mit sozialen Fragen zu vermischen; oder der Erfolg des Autors John Steinbeck, in dessen Schatten eine begabte Schriftstellerin verschwand.
Nach dem berüchtigten Wall-Street-Crash am Schwarzen Donnerstag, dem 24. Oktober 1929, legte sich die Great Depression wie ein besonders finsterer Schatten über die Seele der USA – unzählige Filme haben das aufgegriffen, aber keiner so wie „Früchte des Zorns“. „It could very easily have been a downbeat picture of total frustration“, schrieb Darryl F. Zanuck, der Produktionsleiter von Twentieth Century-Fox, der wie so oft einen guten Riecher hatte, als er die Filmrechte für John Steinbecks gleichnamigen Bestseller aus dem Jahr 1939 kaufte; „yet the Joads were never frustrated. […] Every tragedy in the world hit them, but you went out of the theatre with an upbeat in your heart because their courage and guts set an example for you.“[1]
Die Joads: Das sind Repräsentant:innen jener Menschen jener Regionen, die in der US-amerikanischen Wirtschaftskrise regelrecht verwüstet wurden – Menschen, an denen sich die Auswirkungen von Rezession und Modernisierung maximal konkretisierten. Eine jahrelange Dürreperiode trocknete die einst fruchtbaren Ackerböden aus, deren Erde sich anschließend im Wind zu verheerenden Staubstürmen verdichtete. Dust bowl-Regionen waren insbesondere die Western High Plains zwischen Nebraska und Oklahoma. Und die Opfer dieser Trockenheit waren die tüchtigen Farmer:innen, die ihr Land aufgeben mussten – mit einem Mal begann eine soziografische Säule der USA zu bröckeln.
Die Emigration aus dem Heartland erreichte das Ausmaß einer Völkerwanderung: Zwischen 1930 und 1940 verließen ca. 3,5 Millionen Menschen ihre Heimat. Sie überschwemmten Kalifornien; und das Überangebot an Arbeitskräften ließ die Löhne in den Keller gehen, wodurch die Wirtschaftsflüchtlinge schon bald zu den ärgsten Leidtragenden der Great Depression gehörten – Arkies, Okies oder Texies wurden zu Synonymen für bitterliche Armut. Den biblischen Exodus-Charakter dieser Wanderungsbewegungen fasste 1976 Hal Ashbys „Bound for Glory“ in packende Bilder.
John Ford, der 1894 geborene Regisseur, ruft in „Früchte des Zorns“ die Strapazen von Niedergang und Scheitern in Erinnerung. Da sind die aufgebrachten Männer der Farmerfamilien, die ihren Grund und Boden, ganz in der Tradition der Frontier-Pioniere, mit Waffengewalt verteidigen wollen; und als sie der abgefeimte Bote im Automobil mit immer weiteren Verzweigungen im anonymen Geäst der Geschäftswelt verwirrt, fragen sie verdutzt, wen sie denn nun bitte erschießen sollen, um ihr Land zu behalten. Dass ausgerechnet Ford für diesen Film auf den Regiestuhl gesetzt wurde, hatte eine gewisse Logik. Erstens war er damals noch nicht jener reaktionär erscheinende Republikaner, der Goldwater und Nixon wählte oder öffentlich den Vietnamkrieg verteidigte. Und zweitens war Ford einer der großen Leinwandchronisten der US-amerikanischen Geschichte, der in seinen (Stummfilm‑)Western meist Moral und Anstrengungen des Aufbaus der USA zeigte, mit Tom Mix und Harry Carey die Archetypen des Hollywoodcowboys vor seiner Kamera hatte. Ein Film, in dem die tüchtigen Menschen nicht mehr von Indianern oder Banditen, sondern von Banken und Bürokratien bedroht sind, schien daher einem Ford’schen Kino-Kontinuum zu entsprechen.
Eine Szene – sie gehört zu den besten jenes Filmjahrzehnts – zeigt die anrückenden Planierraupen, die „Cats“ (= Caterpillar tractors), die sich ihren Weg über die ausgedehnten Felder bahnen, um das Gelände aufzuwühlen und die über Generationen behüteten, dem Schicksal abgetrotzten Grundstücke mitsamt Gebäuden dem Erdboden gleichzumachen. Dass sie mit der Wucht, Geradlinigkeit und Gründlichkeit von Panzern über die Felder und Häuser hinweggehen, gewinnt noch einmal an Grusel, wenn man bedenkt, dass zum Zeitpunkt der Kinopremiere im Januar 1940 in Europa gerade die Kettenungetüme der Wehrmacht in Polen eingefallen waren und bald auch die USA im Krieg mit Japan und dem Deutschen Reich stehen würden. Die Szene ist aber nicht zuletzt so beeindruckend, da sich in ihr die tragische Chancenlosigkeit der Midwest-Bauern offenbart, deren siebzig, achtzig Jahre lang, über mehrere Menschenalter hinweg gegen die Widrigkeiten der Natur behaupteter Besitz binnen weniger Minuten einer mechanisierten Zerstörung anheimfällt, die gesichtslose Bürokrat:innen und Geschäftsleute in hunderten Meilen Entfernung beschlossen haben (eine Konstellation, die an Elia Kazans „Wild River“ aus dem Jahr 1960 erinnert, wo Montgomery Clift als Abgesandter der Tennessee Valley Authority, ebenfalls in den Dreißigern, eine renitente Südstaatlerin von ihrem durch den Bau von Staudämmen in Kürze überfluteten Grundstück entfernen soll).
Auch die Joads müssen der technokratischen Modernisierung weichen. Sie haben sich eine derangierte, zum Truck umfunktionierte Limousine aus den Zwanzigern beschafft, die sie und ihr Hab und Gut gen Westen transportieren soll. Sie klammern sich an die Hoffnung eines Flugzettels, der Arbeit in Kalifornien verheißt. Aber Ford inszeniert das Ganze mehr als Ab- denn Aufbruch. Die Älteren sind so sehr in ihrer Heimat verwurzelt, dass sie die Verpflanzung nach Kalifornien nicht überleben werden.
Der erste Teil des Films steht ganz im Zeichen des Auszugs der Joads, die hier das historische Schicksal der Okies repräsentieren. Die Bildsprache ist so düster und karg, dass man sich streckenweise in einem Endzeitfilm wähnt – in einer Dystopie, deren Entstehungsgeschichte ein renitenter Farmer erzählt, der sich im verlassenen Haus der Joads versteckt, einer der letzten verbliebenen Hütten in diesem Gebiet. Das Haus ist mehr Bretterbude als Wohnstätte einer Familie; im Hintergrund ruhen, wie stumme Zeugen des Verfalls, zurückgelassene Landwirtschaftsgeräte. Beim Anblick dieses Grundstücks vermag man nicht zu sagen, ob es 1935 oder nicht doch 1835 ist. In dieser Sequenz schleichen die Schicksalsopfer wie durch ein Wasteland, und Ford zeigt lediglich die blassen, leidgeprüften Gesichter und damit die Menschen als von der Finsternis verschlungene Wesen. Der Farmer, Muley Bates (John Qualen), ist eine verlorene Seele, die dem gerade auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassenen Tom Joad – und mit ihm dem Publikum – vom Untergang der redlichen Bauern berichtet. Inszeniert ist diese Szene wie eine am Lagerfeuer dargebotene Horrorgeschichte: Das Gesicht des Erzählers ist hell ausgeleuchtet, während ihn ansonsten nur Dunkelheit umgibt; auf dem Rückblick liegt ein dumpfer Grauton, der eine beinahe surreale Atmosphäre verströmt und dem Bericht eine präapokalyptische Aura verleiht. Für diese Bilder zeichnete Kameramann Gregg Toland verantwortlich, der nur wenig später mit Orson Welles „Citizen Kane“ (1941) drehte.
Der nach vier Jahren Haft heimgekehrte Tom Joad ist der mental stärkste und reifste Sohn, der von der bevorstehenden Abreise seiner Familie gerade noch rechtzeitig erfährt, um sich mit ihnen gemeinsam auf den beschwerlichen Weg zu machen. Tom Joad ist ein kinematografisches Monument, ein Leinwandrepräsentant der von den Sandstürmen aus Oklahoma nach Kalifornien getriebenen Arbeitsmigrant:innen in der Great Depression – einer, der in feinster Westernpoesie noch die härtesten Begebenheiten mit einsilbigen Kommentaren erträgt. Henry Fonda verleiht ihm eine trotzige Härte, mit der er seine Großfamilie in einem ramponierten Quasi-Truck von Oklahoma in Richtung Westküste kutschiert und die ihn in einer unwirtlichen, eigenartig zivilisationsfernen Gesellschaft überleben lässt. Fondas Wirtschaftsflüchtling gehört stets die Sympathie des Publikums – lange Zeit war es die einzige Rolle, für die der Hollywoodgigant Fonda eine Oscarnominierung erhalten hatte, bis er 1982, bloß wenige Monate vor seinem Tod, für seine letzte Kinoperformance in „On Golden Pond“ (1981) schließlich doch noch die Statuette in der anerkannten Premiumkategorie der besten Hauptrolle erhielt.
Fonda, damals Mitte dreißig, verlieh dieser Romanfigur auf der Leinwand schlichtweg das richtige Gesicht. Erst kurz zuvor, ebenfalls unter Fords Regie, hatte er in „Young Mr. Lincoln“ (1939) den späteren Staatshelden Abraham Lincoln gespielt. Tom Joads Körpersprache, seine Courage und Integrität verkörperten die Moral, mit der sich kollektive Krisen wie die Wirtschaftsdepression individuell überkommen ließen und die nicht weniger als dem idealtypischen Amerikaner entsprach. Eben darauf passte Fonda, der in seiner Karriere nicht zufällig immer wieder Generäle und Präsidenten spielte. Fonda und sein Kumpel James Stewart, der vor der Kamera oft den anständigen Durchschnittstypen gab, schufen mit ihrer Filmografie die ewigen Prototypen demokratisch-liberaler US-Patrioten. Vielleicht kein anderer als Fonda hätte also diesen Charakter darstellen können, auf den Bruce Springsteen Mitte der Neunziger in seinem Song „The Ghost of Tom Joad“ (vom gleichnamigen Album) rekurrierte und den Rage Against the Machine zwei Jahre später coverten – nachdem bereits die Folklegende Woody Guthrie zu Beginn der Vierziger in seinen autobiografisch inspirierten „Dust Bowl Ballads“ ebendiesen Joad besungen hatte. „Wherever men are fightin’ for their rights, that’s where I’m gonna be, Ma“, heißt es bei Guthrie in Anlehnung an Steinbecks Vorlage. „Welcome to the new world order. Families sleepin’ in their cars in the Southwest. No home, no job, no peace, no rest“, singt Springsteen.
Der zweite Teil des Films schildert die Fahrt von Oklahoma nach Kalifornien in dem dürftigen Gefährt, das zwar die Vertrauenswürdigkeit eines Seelenverkäufers besitzt, aber die Hoffnung der zuversichtlichen Joads auf eine Zukunft nicht zu trüben vermag. Im letzten Teil folgt dann die Ernüchterung im Angesicht einer erbarmungslosen Realität von Elend und Ausbeutung. Dazwischen gibt es viele denkwürdige Szenen. Einmal erleben wir die Bloch’sche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, als adrette Tankstellenjungs den Joad-Laster bemitleiden, der sich – wie früher die Siedlertrecks mit ihren Planwagen und einigen Ochsen im Schlepptau – auf ungewisse Fahrt durch die Wüste des kalifornischen Hinterlandes begibt, während sie sich in Folie verpackte Kaugummis einschieben. Dann die bereits eingangs geschilderte Einfahrt in das Okie-Lager: Die Kamera filmt aus der Fahrgastzelle des Transporters und Tom Joad bemerkt in seiner unnachahmlichen Lakonie: „Sure don’t look none too prosperous.“ Hier erstreckt sich dann auch die Elendsarchitektur: notdürftige Unterkünfte aus Zelten und Holz, das Mobiliar aus Brettern und Holzkisten zusammengezimmert, das Ganze eine klägliche Improvisation. Im trockenen Kalifornien, im Central Valley, sind die hungernden Menschen in Lagern zusammengepfercht, von ihrer Besitzlosigkeit und mickrigen Löhnen oder schierer Arbeitslosigkeit auf unbestimmte Zeit zu einem spartanischen Lebensstil verdammt. „Bound for Glory“ hat 35 Jahre später versucht, dieses erschütternde Paralleluniversum mit einer ähnlich erschreckenden Szenerie zu rekonstruieren – in Hal Ashbys Great Depression-Drama schlägt sich der Schildermaler und spätere Singer-Songwriter Woody Guthrie (David Carradine) mit einer Handvoll Pinsel von Texas nach Kalifornien durch und gerät in ein Lager voller Wirtschaftsmigrant:innen.
Betrachtet man Literatur- oder Theaterverfilmungen – die in den 1950er und 60er Jahren sicherlich eine Hoch-Zeit hatten –, stellt sich unwillkürlich die Frage nach der Treue zum Original, sprich wie nah die Zelluloidversion an der Vorlage ist. Weil Filmrechte meist nicht billig waren, wachten oft die ganz großen Studios über solche Produktionen – und damit auch über ihr kommerzielles Interesse, das nicht selten künstlerische Erwägungen ausstach. Im Falle von „Früchte des Zorns“ stand mit Twentieth Century-Fox sogar eines der größten Studios überhaupt hinter dem Filmprojekt, und mit dem Produktionsleiter Darryl F. Zanuck einer der am stärksten kommerziell orientierten Filmemacher. Zanuck hatte – zumindest glaubte er das, und auch die Empirie hatte ihm oft genug recht gegeben – ein verlässliches Gespür für Kinokassenerfolge. Dabei versuchte Zanuck stets etwas mehr als seine Rivalen J.L. Warner oder L.B. Mayer, Moneten und Moral zu vereinbaren. Den idealistischen Zanuck-Produktionen aus den Vierzigern, in denen Twentieth Century-Fox an der Schwelle zum Kalten Krieg politische Botschaften verbreitete, gelang mitunter ein gesellschaftsdienlicher Kompromiss aus Kommerzkino und moralischen Lektionen – ob eine Kritik an der unheilvollen Lynchjustiz in „The Ox-Bow Incident“ (1942), die Hymne auf den Rechtsstaat in „Boomerang!“ (1947) oder wie in „The Snake Pit“ (1948) der Blick auf die Missstände in den US-amerikanischen Psychiatrien. Meist nahm sich Zanuck eines Projektes ganz besonders an, das dann auch unter dem Slogan „Darryl F. Zanuck’s production of …“ erschien und auf Plakaten sowie in Trailern entsprechend beworben wurde. Und bei „Früchte des Zorns“ – der Verfilmung eines der erfolgreichsten, meist rezipierten Werke des 20. Jahrhunderts – lief der Zanuck-Motor auf Hochtouren.
Das Ausgangsmaterial ließ sich zu einem Film verarbeiten, den einer wie Zanuck problemlos in den Kinosälen, im Rahmen von Vorschauen, einem potenziellen Publikum als obligatorischen Kulturkonsum anpreisen konnte – so als müsse man diesen Film unbedingt sehen, wollte man in irgendeiner Form noch als halbwegs kultiviert und informiert gelten. Auch griff Zanuck gehörig in das Drehbuch ein und hatte keinerlei Skrupel, die von der Gloriole des Pulitzerpreises umgebene Buchvorlage an teils entscheidenden Stellen einfach zu ignorieren oder leinwandtauglich zu straffen.
John Steinbeck, der Autor, hatte mit seinem 1939 veröffentlichten Bestseller, der sich im ersten Jahr fast eine halbe Million Mal verkaufte, nicht nur das leidvolle Schicksal der Wirtschaftsflüchtlinge aus dem US-amerikanischen Heartland einer möglichst großen Öffentlichkeit nahebringen wollen; vor allem wollte er die Verantwortlichen und Profiteur:innen der US-amerikanischen Wirtschaftskrise an den Pranger stellen, wollte nachdenklich stimmen, dass sich der Besitz von immer mehr Grund und Boden auf immer weniger Eigentümer:innen beschränkte. Das waren freilich Gedankengänge, die wenig später, im rauen Klima des Kalten Krieges, als Unamerican galten, im Verdacht standen, einer kommunistischen Ideologie in die Hände zu spielen. Steinbeck wollte verdeutlichen, dass als „reds“ verschriene Menschen in vielen Fällen in Wirklichkeit tüchtige, nach Gerechtigkeit strebende Leute aus der einfachen Bevölkerung waren, aus dem gemeinen Volk der USA als Land of Opportunity, mitnichten kommunistisch indoktrinierte Agitator:innen, Träumer:innen oder gar Gefährder:innen des US-amerikanischen Pursuit of Happiness, wie ihn die Verfassung verbürgte. „Früchte des Zorns“, und zwar weniger das Buch als die Kinoversion, war daher insofern brisant, als nur wenige Jahre später die Kommunistenhatz der McCarthy-Ära über Hollywood hereinbrach und die Filmbranche mit der schlimmen Blacklisting-Praxis heimsuchte, die zahlreiche Karrieren und kreative Existenzen zerstörte.
Hollywood-Zyniker:innen mögen einwenden, dass die Studios stets eine Präferenz für Happy Ends hatten, selbst wenn sie dafür manchmal die Stringenz und Glaubwürdigkeit der Story biegen und brechen mussten – vermutlich deshalb fremdelten sie dann auch mit dem pessimistisch-bitteren New Hollywood-Kino. Die Erzählungen von verdrossenen Regisseur:innen, die auf Geheiß der geldgebenden Studios alternative Schluss-Szenen drehen mussten, sind Legion. Und so war es auch bei „Früchte des Zorns“: Zanuck verpasste dem Film einen vergleichsweise optimistischen Spin, indem er die Joads im letzten Teil zumindest eine halbe Erlösung in einem staatlich beaufsichtigten Lager sowie mit der Aussicht auf Arbeit in Fresno finden ließ und damit die härteren, betrüblicheren Ereignisse am Ende des Romans aussparte – etwa wie Tom Joads Schwester Rose of Sharon (im Film „Rosasharn“ ausgesprochen) nach der Totgeburt ihres Kindes einen verhungernden Mann von ihrer Brust trinken lässt.
Der Entstehung des Romans, der vielen als eines der wichtigsten Werke wenn nicht der Menschheits- so doch wenigstens der US-amerikanischen Geschichte gilt, haftet indes der Hautgout des Plagiats an. Steinbeck hatte im Oktober 1936 für die San Francisco News unter dem Titel „The Harvest Gypsies“ eine Artikelserie geschrieben, die das harte Leben von Wirtschaftsflüchtlingen aus dem Mittleren Westen in Kalifornien in den Blick nahm. Das dieser Serie zugrunde liegende Material ergänzte Steinbeck für sein Buchvorhaben mit umfangreichen Notizen von Sanora Babb, einer Journalistin, die 1938 für die Farm Security Administration, einer im Jahr zuvor eingerichteten Bundesbehörde, durch die Zeltlager der Sandsturmflüchtlinge zog und deren Bewohner:innen die Perspektiven des Roosevelt’schen New Deal nahebrachte. Auch kannte Babb die fahlen, wirtschaftsdepressiven Gesichter jener ehedem stolzen Menschen, denen der Dust bowl die Existenzgrundlage entzogen hatte, aus einem Besuch ihrer Heimatstadt in Oklahoma. Ihre Beobachtungen wollte sie in einem Buch über das Unglück der Arbeitsmigrant:innen verarbeiten – Babbs Aufzeichnungen wurden Steinbeck, angeblich ohne ihr Wissen, von Babbs Vorgesetztem Tom Collins zugespielt, dem Steinbeck später neben seiner Frau Carol „Früchte des Zorns“ widmete und der auch als technischer Berater am Zanuck-Film mitwirkte.
Babb indes ging ziemlich leer aus: Weder wurde sie im Abspann des Films, dessen Bilder ja letztlich zu einem guten Teil auf ihren wirklichkeitsgesättigten Berichten basierten, gewürdigt noch erschien ihr Buch, das zu ihrem Pech fertig wurde, just als Steinbecks Roman bereits die Verkaufslisten anführte und ihr Verlag den Markt für ein solchermaßen ähnliches Werk mit identischem Sujet wie jenes von Babb für saturiert hielt – es erschien erst mehr als ein halbes Jahrhundert später, 2004 („Whose Names Are Unknown“), im Jahr vor ihrem Tod. Babb widerfuhr jene Ungerechtigkeit, die schon manch vielversprechende Karriere zerstört hatte: Das von ihr sorgsam akkumulierte Material half einem anderen bei der Fertigstellung eines Werkes, das durch sein früheres Erscheinen Babbs eigenes Werk mit einem Mal obsolet machte – ohne dass ihr Anteil in irgendeiner Weise auch nur erwähnt wurde. Delikat ist Babbs unfreiwilliger, verschwiegener Anteil an Steinbecks Arbeit vor allem, da die Entscheidung des Nobelpreis-Komitees, Steinbeck 1962 mit der renommierten Auszeichnung zu ehren und damit seinen Status als Jahrhundertautor endgültig zu zementieren, wohl maßgeblich auf „Früchte des Zorns“ zurückging.
Dem Film tut das freilich keinen Abbruch. Sein Entstehungskontext macht ihn nur umso faszinierender, noch mehr allerdings, dass „Früchte des Zorns“ sich gleich an mehreren Schnittstellen befindet: von Freizeitunterhaltung und sozialkritischer Erweckung; von Geldmacherei und Bildungsauftrag; von Literatur und Film; von Agrar- und Dienstleistungsgesellschaft. Obendrein hat er, durch seine Bilder, aber auch seine zeitliche Nähe zu den realen Ereignissen einen quasi-dokumentarischen Charakter, der nachfolgenden Generationen immer wieder ein zumindest vages Gefühl von den sozialen Verwerfungen jenes Abschnitts der US-Geschichte zu vermitteln vermag. Vor allem aber ist „Früchte des Zorns“ ein Werk, das – stärker als die meisten anderen – ständig aufs Neue an Aktualität gewinnt. Ob Heimatverlust und Überlebenskampf vor dem Hintergrund der Fluchtbewegungen und Elendslager oder Krisenresilienz im Kontext der Coronapandemie: „Früchte des Zorns“ kann seinem Publikum auch etliche Jahrzehnte nach seinem Dreh wertvolle Lehren für die jeweilige Gegenwart an die Hand geben.
TextRobert Lorenz
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