Filmtipp

Doc (1971)

Kurzbeschreibung: Die Erzählung vom Pokerass und Revolverhelden Doc Holliday, der seinem Kumpel Wyatt Earp im Kampf gegen die Clanton-Bande hilft, ist einer der großen Mythen der amerikanischen Geschichte. Der Film will mit der Legende der erbarmungslosen Frontier-Ära und ihrer Heldenmythen aufräumen und entwickelt durch seinen Verzicht auf Musikbegleitung eine ganz eigenwillige Atmosphäre.

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An der Rolle des Pokerasses und Revolverhelden, des tödlichsten Zahnarztes im Westen, haben sich schon viele versucht, aber Stacy Keach ist der ultimative John „Doc“ Holliday. Sein alter Kumpan und Waffenbruder Wyatt Earp (Harris Yulin) ruft ihn 1881 in das expandierende Wüstenkaff Tombstone, mitten hinein in das verwegene Arizona Territory, um mit vereinten Kräften viel Macht und Geld zu erlangen. Der schwindsüchtige Holliday, seinen nahenden Tod ständig vor Augen, beginnt jedoch, an seinem Lebenswandel zu zweifeln, als er sich in die Prostituierte Katie Elder (Faye Dunaway) verliebt. Earp will indes die Clanton-Bande auslöschen, die in der kleinen Stadt für Ärger sorgt und deren Kopf Ike (Michael Witney) mit Earp um die Platzhirschrolle konkurriert. „‚Doc‘“ ist ein Film über Legenden der erbarmungslosen Frontier-Ära, der mit amerikanischen Heldenmythen aufräumt und durch seinen völligen Verzicht auf Musikbegleitung in New Hollywood-Manier eine ganz eigenwillige Atmosphäre entwickelt.

Die Geschichte vom Clinch zwischen den Clanton- und den Earp-Brüdern in Tombstone (dt.: Grabstein), die Verwicklung von Doc Holliday und der tödliche Showdown am O.K. Corral im Oktober 1881 sind Bestandteil der amerikanischen Western-Folklore, eine der faszinierendsten Episoden des alten Westens und nicht zuletzt deshalb vielfach verfilmt und vermarktet worden (obwohl das Gefecht lediglich eine halbe Minute dauerte und sich hinter dem Namen nichts weiter als eine Pferdekoppel verbirgt). „‚Doc‘“ ist quasi die New Hollywood-Variante dieses Mythos; fast anderthalb Jahrzehnte zuvor hatte das „alte“ Hollywood seine Interpretation geliefert: mit Kirk Douglas als Doc Holliday und Burt Lancaster als Wyatt Earp in Gunfight at the O.K. Corral“ (1957).

Wyatt Earp bedroht vor einem Restaurant The Kid mit einem Revolver

Holliday, Jahrgang 1851, entstammte einer Südstaatenfamilie und wurde an ein Ostküsten-College geschickt, um eine vernünftige Ausbildung zu erhalten. Holliday wurde Zahnarzt, erkrankte aber an Tuberkulose; um die Beschwerden zu lindern, schickten ihn die Ärzte wegen des Klimas in den Südwesten. Damit trugen sie zur Erschaffung einer Sagengestalt bei, die vermutlich weitaus berühmter ist als die meisten Präsidenten der USA. Holliday praktizierte nicht mehr, sondern wurde ein äußerst erfolgreicher Pokerspieler – und ein hervorragender Schütze noch dazu. Während Holliday durch das amerikanische Heartland vagabundierte, befreundete er sich mit dem Gesetzeshüter Wyatt Earp, dem er angeblich einmal das Leben rettete. „‚Doc‘“ setzt einige Jahre später an, als der U.S. Marshal Wyatt Earp in Tombstone, Arizona Sheriff werden will. Er schreibt Holliday einen Brief: Mit ihm gemeinsam will er die Stadt ausnehmen, in der viel Glücksspielgeld zirkuliert – während Earp die Stadtgesellschaft und das Gesetz kontrolliert, soll Holliday mit seinem Pokertalent die Spieler ausquetschen.

die Earp-Brüder und Holliday im bewaffneten Anmarsch auf den O.K. Corral

Earp, der als Marshal innerhalb Tombstones keine Befugnisse hat, muss zunächst jedoch die Wahl gewinnen und dafür seine neuen Mitbürger überzeugen, ihn zum Gesetzeshüter der Stadt zu machen. Im Film beschließt er einen Deal ausgerechnet mit dem Kopf der ihm verhassten Clanton-Familie, die ihm einen Postkutschenräuber ausliefern soll – im Austausch für eine stattliche Belohnung. Als der Deal dann platzt, provoziert Earp die Clantons zu einem Shootout, der ihn vor der Stadtbevölkerung als verlässlichen Law-and-Order-Garanten profilieren soll.

Das Blockbuster-Hollywood der 1990er Jahre hat diese Geschichte 1993 in „Tombstone“ neu verfilmt, mit einem zeitgenössischen Star-Aufgebot: Kurt Russell als Wyatt Earp, Bill Paxton und Sam Elliott als dessen Brüder und Val Kilmer als Doc HollidayWyatt Earp“-Saga, mit Kevin Costner als Earp und Dennis Quaid als Holliday. Auf eigentlich all diesen Earp-Holliday-Variationen lastet letztlich der professionelle Hollywood-Fimmel, der diese Filme nie realistisch wirken lässt. Kirk Douglas als Doc Holliday mutet fast schon wie eine theatralische Darstellung an, nicht untypisch für das Action-Western-Kino der Fünfziger. Aber vergleichsweise „echt“, vergleichsweise „realistisch“ fühlt sich nur „‚Doc‘“ an.

die Clanton-Gang steht am O.K. Corral

Vielleicht schon allein deshalb, weil Harris Yulin – ein starker Schauspieler – einfach nicht über die außergewöhnliche Ausstrahlungskraft eines Burt Lancaster, Kevin Costner, auch Kurt Russell verfügt. Yulin entspricht nicht der Vorstellung einer Heldenfigur, ist dafür viel zu gewöhnlich, unscheinbar, blass. In „‚Doc‘“ könnte er genauso gut einen belanglosen Ladenbesitzer oder einen Ganoven, der nur drei Filmminuten überlebt, spielen – das Gesicht eines Statisten, einer Nebenrolle. Nichts an ihm ist übertrieben.

Harris Yulin als Wyatt Earp

Und Gleiches gilt für Stacy Keach: Zu Beginn des Films kommt er aus einem Sandsturm in einen Saloon, im Nirgendwo. Staubschichten liegen auf seiner eigentlich eleganten Kleidung – und noch später im Hotel in Tombstone wird er so aussehen, wie man eben aussieht, wenn man mit einem Pferd tagelang die Wüsten und Steppen von Arizona durchquert. Nicht wie der stets adrette Kirk Douglas in Gunfight at the O.K. Corral; und anders als Val Kilmer in „Tombstone“ sieht Stacy Keach würdevoll geplagt aus, wie einer, der im jungen Leben schon viele Schmerzen ertragen hat (wie der wirkliche Holliday war Keach zum Zeitpunkt des Tombstone-Vorfalls Anfang dreißig). Keach gibt Hollidays Ambivalenz buchstäblich ein Gesicht: die sentimentale Sanftmut Freunden und die brutale Härte Feinden gegenüber.

Stacy Keach steht als Doc Holliday in einer düsteren Kneipe

Der mächtige Holliday – als Pokerass und Gunfighter gleichermaßen gefürchtet und respektiert – schrumpft zu einer kläglichen Figur, wenn er sich im Hotelzimmer im Tuberkulose-Krampf am Bettgestell festkrallt, sich mit einem weißen Taschentuch den Bluthusten vom Mund wischt und versucht, seine Krankheit im Whisky zu ertränken. Weil er weiß, dass er ohnehin nicht lange zu leben hat, lässt er sich umso leichtfertiger auf riskante Pläne ein: Als Earp ihm im Saloon von Tombstone erzählt, dass hier am Kartentisch viel Geld zu machen sei, füllen sich Hollidays Blicke mit nervöser Gier, endlich loszulegen.

Aber Earp muss bald feststellen, dass sein Freund, der vagabundierende Edel-Hallodri Holliday, sich in eine Frau verliebt hat. In einer Szene stürmt der angetrunkene Holliday in das Bordell, zerrt Katie Elder unter dem Protest ihres Freiers aus dem Bett und schleppt sie, die Halbnackte, über die Schultern gelegt in sein Hotelzimmer. Am nächsten Tag ziehen sie in ein Haus. Earp und Elder rivalisieren später förmlich um die Gunst von Holliday, den beide, ganz eifersüchtig, nur für sich haben wollen. Zwischen Holliday und Earp besteht eine Freundschaftsbande, die immerhin so weit reicht, dass sich die beiden bei ihrem Wiedersehen in die Arme fallen und innig drücken – eine Geste, die man so nicht in vielen Western sieht.

abendliche Bürgerversammlung in Tombstone

Aber die Szenen zwischen Elder und Holliday, zwischen Keach und Dunaway, sind von tiefer Romantik erfüllt. Zu Beginn des Films gewinnt er sie im Pokerduell mit Ike Clanton; dann reitet er mit ihr nach Tombstone. Als sie während der beschwerlichen Reise halb verdurstet in den Dünen zusammenbricht (der mexikanische Gastwirt hat den arroganten Gringos Essig in die Trinkflaschen gefüllt), bindet Holliday sie einfach auf das Pferd. Die Dialoge zwischen beiden sind großartig: Als sie im Freien campieren, sagt sie beim Abendessen: „Beans make me fart“, woraufhin Holliday erwidert: „Just stay away from me.“ Und sie: „Bastard.“ Er: „Whore.“ Später, im gemeinsamen Haus, begrüßt sie ihn mit glückseligem Lächeln, als er abends in der Haustür steht: „Hello, bones.“ Und er: „Hello, bitch.“ Selten hat in Schimpfworten so viel Liebe gesteckt, wurden Beleidigungen so zärtlich zweckentfremdet, als seien sie die romantischsten Liebesbekundungen überhaupt.

Stacy Keach als ramponierter Doc Holliday

Dunaways Katie Elder, die ihren Vater nie gekannt hat und deren Mutter schon anschaffen ging, ist eine großartige Filmfigur: Als eine der christlichen Earp-Ehefrauen sie zur kirchlichen Eheschließung drängt, sagt Elder bloß: „When I’m on my knees, it ain’t in a prayer.“ In der Kaschemme zu Beginn des Films sitzt sie am Tisch, während Clanton ihr am Dekolleté herumfummelt; als Holliday sie zum Spieleinsatz erhebt, ist sie eigentlich ganz froh; und noch mehr freut sie sich, als Holliday nach warmem Wasser verlangt und dem Gastwirt zuraunt: „I gotta wash this bitch.“ Denn sie ist sichtlich schmutzig.

Katie Elder (gespielt von Faye Dunaway) und Ike Clanton (gespielt von Michael Witney)

Das gehört zu den Details, die „‚Doc‘“ eine gewisse Wirklichkeitsnähe verleihen und die man in vielen Western so häufig vermisst. Wie gesagt, gibt es keine musikalische Handlungsbegleitung, wodurch selbst das Knarzen eines Stuhls oder das Geraschel einer Uhrenkette zu hören ist. Oder einzelne Szenen, wie die als Elder und Holliday im Freien übernachten: Als sie ihn aufweckt, wirbelt er mit aufgerissenen Augen und zwei gezückten Pistolen herum – statt Lagerfeuerromantik paranoide Angst, im Schlaf überfallen und getötet zu werden. Im Establishing Shot präsentiert sich Tombstone im lauten Frontier-Trubel mit geschäftigen Menschen und rollenden Planwagen als expandierende Kleinstadt. Und manche im Film gesprochenen Sätze könnten mit ihrem scharfsinnigen Gehalt Quintessenzen des „Wilden Westens“ sein: Als „ass end of the West“ charakterisiert Katie Elder den namenlosen Ort, an dem sie auf Holliday trifft. „Oh, you’d be surprised of the things you can solve with a gun“, belehrt Earp, im Wissen um die eigentliche Machtlosigkeit des Gesetzes. Und in seiner Wahlkampfrede bringt der amtierende Sheriff die Selbstverteidigungsmentalität der amerikanischen Kleinstadtgemeinden auf eine prägnante Formel: „We’ve all got stakes in Tombstone. We’ll be here when all the others have gone on through. So it’s up to us to work together for a better town and a better future.

zwei Leichen liegen im Staub an einem Gatter

Und „‚Doc‘“, da ganz New Hollywood, taucht seine Figuren in reichlich Zwielicht: Was in Gunfight at the O.K. Corral noch ein halbwegs gleichrangiges Feuergefecht gewesen war, ist in „‚Doc‘“ eine arglistisge Exekution: Während Ike Clanton verängstigt im Angesicht der dickläufigen Shotguns der Earps herumdruckst und vorgibt, bloß reden zu wollen, eröffnet Wyatt Earp einfach das Feuer, woraufhin Clanton und dessen Kumpane von den lawmen quasi hingerichtet werden. Der Macho-Halunke Clanton ist dadurch mehr Opfer als Täter. Ein „The Kid“ genannter Youngster (Denver John Collins, später ein Kameramann) kann aus Ehrfurcht nicht auf seinen Helden Doc Holliday schießen und steckt stattdessen seinen Revolver in das Holster; Holliday, der seine Waffe auf ihn gerichtet hat, wartet und drückt ab – und schießt seinem vormaligen Protegé direkt ins Herz.

Text verfasst von: Robert Lorenz