Filmtipp

The System (1964)

Kurzbeschreibung: Anderthalb Jahre nach seiner Premiere in Großbritannien etablierte „The System“ den jungen Michael Winner als Regiebegabung, als der Film in den USA die New Yorker Kritikerelite begeisterte. „The System“ dokumentiert sowohl das Zeitkolorit der hedonistischen Swinging Sixties als auch die englische Seebadkultur.

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Tell me, do you think you’ll marry Nicola?“, fragt Nicolas Vater. „I don’t suppose she wants to get married. Not sure I do either“, antwortet Tinker, Nicolas Urlaubsaffäre. Der Vater: „The dilemma of youth in a nutshell.“ „In a nutshell“ wird vieles in „The System“ resümiert. Der ganze Film ist eine Abfolge tiefer Einblicke in bestimmte Segmente der englischen Gesellschaft, zu einer bestimmten Zeit. Ein Seebad im südwestenglischen Devon ist der Schauplatz, die frühen Sechziger sind die Epoche, in der „The System“ spielt. Als die Kamera zu Beginn des Films, aus dem einfahrenden Zug heraus, den Protagonisten am Bahnsteig zeigt, blickt man in ein Gesicht von solcher Ausstrahlungskraft, dass man unweigerlich überzeugt ist, schon damals hätte in diesem Kinomoment allen klar sein müssen, hier einen künftigen Star zu sehen – obwohl ihn damals eben noch keiner kannte: Oliver Reed.

Reed ist Tinker, ein Fotograf, der am Tag hunderte von Bildern abliefern muss, die er ungefragt von Urlaubern macht, um ihnen dann einen Abholschein auszustellen. „We make memories here“, sagt sein Boss (Harry Andrews (Weitere Filme mit Harry Andrews auf Filmkuratorium.de entdecken)), der sich damals noch eine goldene Nase verdiente, da Fotoapparate nicht sonderlich erschwinglich waren und Smartphones noch weit entfernte Zukunftsmusik. Angesichts der lückenlosen Alltagsprotokollierung via Handykamera wirkt das in „The System“ gezeigte Geschäftsmodell ultimativ anachronistisch – wie umgekehrt die Selfie-Kultur vor diesem Spiegel absurde Züge annimmt. „Things to look back on in the long winter evening“ – auch das eine soziologische nutshell von „The System“. Eine weitere sind die Lebensstilbeobachtungen, die von Tinker und seinen Kumpels in der Manier wissenschaftlicher Milieubeschreibungen pointiert werden, etwa als sie die typischen Urlauber konturieren, die sie als „grockles“ verspotten: „Usually they wear shorts, woolen socks, and thick black leather shoes, with their shirts undone all the way down the front so that you can see the full extent of their manly chests.“ „Or he wears a white open-necked shirt, wide braces and 24-inch grey flannel trousers“, dazu ein Transistorradio als obligatorisches Strandutensil. Im Stil einer Dokumentation über das Leben indigener Bevölkerungsgruppen ergänzen sie: „The grockle puts his grandparents in an old folks’ home, lives in a pre-cast concrete cave and comes out once a year to make a religious pilrimage to the sea from whence he came. There, he ceremoniously rolls up his trousers, and dips his feet into the water.“

Nahaufnahme von Oliver Reed als Tinker, der in seiner Wohnung Seifenblasen macht.

Nahaufnahme von Tinker mit Flechthut und gestreiftem Hemd.

Tinker mit kariertem Hemd draußen in einem Gartenstuhl.

Im Hintergrund aalen sich die bleichen Körper der aus den großen und mittelgroßen Städten Englands angereisten Menschen im Sand, ein eskapistisches Alltagsrefugium, das die englische Klassengesellschaft mit befriedet. Tinker ist der Mastermind eines halben Dutzends junger Kerle, die in den drei bis vier Sommermonaten der Urlaubssaison so viele Frauen wie möglich flachlegen wollen. Zu diesem Zweck hat sich Tinker ein System erdacht, von dem alle profitieren: Sobald einer attraktive Neuankömmlinge gesichtet hat, informiert er die anderen, und gemeinsam teilen sie sich die potenziellen Sexpartnerinnen auf – und sie sehen viele Frauen, denn sie arbeiten an den Hotspots der Stadt: im Café, beim Bootsverleih, am Strand. Die Partys und Bars steuern sie in einem alten Rolls-Royce (Weitere Filme zu Rolls-Royce „Phantom“ auf Filmkuratorium.de entdecken) aus den frühen Dreißigern an, mit sie wie in einem Einsatzfahrzeug (vorzugsweise nachts) unterwegs sind. „Birds“, „Thrushes“, „Girls“ – „For three months, this place is thick with them“, erklären sie dem Novizen David (David Hemmings), der sich ihnen anschließt. „So we’re on the Prom Saturday to look over the new birds in town.“ Dieser organisierte Hedonismus konstituiert ihren Alltag, stiftet eine kleine, verschworene Gemeinschaft und motiviert sie zum Weitermachen in ihren kleinen Jobs, das sonst bloß ziellos, trist, pessimistisch wäre. Und er repräsentiert den eiskalten Seebadkommerz, Potenziale auszuschöpfen und Profite zu maximieren. Tinkers Worte über die Urlaubssaison könnten genauso gut auch als Metapher für die Weltwirtschaft fungieren: „Just four months to make all you can, or die. Nobody bothers to stop and see what should be done for the best, only what should be done for more.“

Tinker am Bahnsteig im Gespräch mit zwei gerade angekommenen Urlauberinnen.

Dass dieses Dasein freilich nur eine Übergangsphase im Leben dieser jungen Erwachsenen ist, das ist letztlich die Essenz von „The System“. Tinker, der charmante Oberverführer, der sich in diesem Leben eingerichtet und es sich darin richtig gemütlich gemacht hat, beginnt, die Brüchigkeit dieser unbeschwerten Dolce-Vita-Existenz zu erkennen. Das Schicksal seines Kumpels Nidge (John Alderton), dessen Freundin gerade schwanger geworden ist, konfrontiert ihn mit dieser Wahrheit: Ihm rät Tinker, „to get rid of it“, und organisiert sogleich eine diskrete Adresse, bei der die Freundin vorstellig werden könne, um das ungeplante Kind loszuwerden. Tinkers Reaktion auf die Neuigkeit ist im Unterton mehr Drohung denn Prognose: „[…] you’re going to end up in some ugly little bungalow full of three ply furniture. And four square feet of lawn to mow every Saturday morning.“ Und wie zum Beweis der Substanz dieser Vorhersage schreitet ein Mann in die Szene am Strandimbiss, mit Hosenträgern und karierter Mütze bieder und durchschnittlich in seiner Erscheinung, der exakt auf den Menschen in Tinkers Beschreibung passt und lautstark nach „pots of meat paste“ verlangt – eben wie eine zukünftige Version von Nidge, der mit Tinker dem Geschehen beiwohnt.

Eine kleine Gruppe mit einem Klavier am Strand.

Nahaufnahme von einer nahe dem Strand geparkten Limousine, auf deren Motorhaube Nicola sitzt und Richtung Meer schaut.

Doch wird sich Nidge nicht auf die Abtreibung – auch damals noch ein delikates Thema im britischen Kino – einlassen, sondern im Gespräch mit Tinker räsonieren: „It’s got to come to an end sometime, hasn’t it? Every night the same old thing. Where’s it all going?“ Und das ist exakt die Frage, die sich Tinker – der ultimative Repräsentant ebendieses Daseins – nun auch stellen wird. Vor allem, da nun er sich in eine der Frauen verliebt, die er sonst achtlos sich selbst überlässt, nachdem sie erst einmal im Bett gelandet sind. Und das ist eben besagte Nicola, mit deren Vater (Guy Doleman) sich Tinker unterhalten hat. Sie fährt einen dicken Buick „Riviera“, ist Model und in den Hauptstädten des Kontinents unterwegs, ein Sinnbild für die sexuell befreite, allseits emanzipierte Frau einer sich fundamental wandelnden Gesellschaft. Die typischen Filmrollen sind in „The System“ plötzlich vertauscht: Nachdem sie in einem verlassenen Haus am Strand miteinander geschlafen haben, setzt Tinker zum sanften „I love you“ an, als Nicola ihm mit der Hand auf die Lippen fährt: „It isn’t expected of you.“ Er soll es nicht sagen, die Deutung und Richtung ihrer Beziehung gibt sie vor, selbst im Flüsterton.

Tinker im Gespräch mit seinen Kumpels an der Strandpromenade.

Nicola und Tinker an einem Spielautomaten in einer Bar.

Als wüsste er insgeheim selbst schon, dass es sich um eine Utopie handelt, sagt Tinker im Gespräch mit Nidge, der nun heiraten will: „We could hang about the Prom forever, couldn’t we? Waiting for the summer. Waiting for the girls to arrive.“ Aber der Sommer ist bald vorbei, und für jemanden in Tinkers Alter („Twenty-three … or so“) ist die Zeit gekommen, sich zu orientieren, etwas Neues zu beginnen, da sich nun die Perspektive zusehends verengt. Nach London will er gehen, wo auch Nicola (manchmal) ist. Und so könnte Tinker eine frühere Version von Andrew Quint sein – jenes Londoner Marketingmanagers, den Oliver Reed ein paar Jahre später in Michael Winners I’ll Never Forget What’s’isname“ (1967) spielte. Apropos Michael Winner (Weitere Filme von Michael Winner auf Filmkuratorium.de entdecken): Für ihn war „The System“, noch am Anfang seiner Regiekarriere, bereits der Durchbruch, ein Werk, das maßgeblichen Anteil daran hatte, dass Winner nur ein paar Jahre später für Universal in Hollywood mit großen Budgets drehte. Mit Burt Lancaster, einem der größten Schauspielnamen jener Zeit, machte er den knallharten Western Lawman“ (1971), dann den pessimistischen Agententhriller Scorpio“ (1973) und mit Charles Bronson schuf er in Death Wish“ (1974) einen der kontroversesten Filme der Geschichte.

Urlauber am Strand, im Hintergrund fährt ein Zug und sind Häuser der Stadt zu sehen.

Urlauber am Sandstrand.

Jugendliche sitzen am Sandstrand.

Blick über den dicht bevölkerten Sandstrand.

Doch 1964, als „The System“ rauskam, kannte fast niemand Michael Winner. Gerade an diesem Werk lässt sich die brilliante Vielseitigkeit Michael Winners ermessen, zeigt sich, was für ein unterschätzter Regisseur er war, da Michael Winner selten unter den großen Namen des Sechziger- und Siebzigerjahrekinos auftaucht, mithin fast nie. Dabei ist „The System“ eine ungemein faszinierende Melange aus Nouvelle Vague und dem angloamerikanischen Unterhaltungskino der späten Sechziger, frühen Siebziger, jedenfalls eine neunzigminütige Filmdelikatesse. Natürlich hat dazu nicht nur Michael Winner beigetragen. Schon ein anderer Hauptdarsteller als Oliver Reed hätte dem Film eine ganz andere Note gegeben. Insbesondere die Frauenfiguren sind superb gespielt von Jane Merrow als Upperclass-Spross Nicola, Barbara Ferris als Dauerhedonistin Suzy, Julia Foster als Naivling im ersten Urlaub ohne mütterliche Begleitung oder – und ganz besonders – Ann Lynn als Ella, die deprimierte Frau des Entertainers Stan (Victor Winding), der seine Tage mit der Unterhaltung des Seebadpublikums im Rahmen einer mediokren Music hall-Show verbringt. Und nicht zuletzt ist da die Kamera eines gewissen Nicolas Roeg, der bald selbst als Regisseur (u.a. Performance“ 1970, Don’t Look Now“ 1973, Eureka“ 1983) Filmgeschichte schreiben würde.

David Hemmings als einer von Tinkers Kumpanen bedroht einen Schläger mit einer abgebrochenen Glasflasche.

Aber gute Regisseure haben eben doch meist einen überproportionalen Anteil am künstlerischen Resultat. Und so verdankte sich das ausgiebige Location shooting in Paignton und Torquay – aus dem der Film einen beträchtlichen Teil seiner zeitlosen Aura bezieht – vor allem Winners Frustration aus seinem vorangegangenen Filmprojekt, bei dem ihn der Produzent ins Studio gezwungen hatte. Winner indes war ein Regisseur, der nicht nur authentische, sondern voll und ganz reale Schauplätze bevorzugte – für „Scorpio“ verschaffte er sich sogar, mitten im Kalten Krieg, Zugang zu den echten CIA-Büros. So sehen wir also in „The System“ die echte Seebadinfrastruktur, die echten Urlaubermassen, ein sattes Zeitkolorit, das auch Winners spätere Filme noch heute sehenswert macht. Der RealismusTouch zeigt sich auch in Details – etwa wenn ein fahrendes Fahrzeug von einem anderen fahrenden Fahrzeug aus aufgenommen wird –, die leicht übersteuerte Hintergrundmusik und sporadisch überbelichtete Strandszenen ergänzen sich zu einer wirklichkeitsnahen Fiktion. In „The System“ fängt Winner eine Atmosphäre ein, eine nachvollziehbare, fast greifbare Stimmung: den flüchtigen Hedonismus junger Erwachsener kurz vor dem Sprung in ein neues Lebenskapitel.

Eine Gruppe von jungen Upperclass-Urlaubern vor ihrem Kleinwagen.

Für Winner war „The System“, wie gesagt, der wichtigste Film seiner Karriere. Denn er etablierte ihn als Regiebegabung, als Newcomer mit großem Talent und ausgereiften Fähigkeiten. Freilich erst anderthalb Jahre, nachdem der Film in den britischen Kinos gelaufen war und dort kaum für Furore gesorgt hatte. Erst als „The System“ unter dem Alternativtitel „The Girl-Getters“ in den USA lief und die New Yorker Filmkritiker diesen unbekannten Nachwuchsregisseur aus England lobten, öffneten sich für Winner plötzlich viele Türen. Der Mann, den die Feuilletons der großen Ostküstengazetten da als neue Hoffnung am Firmament des angestaubten britischen Kinos feierten, war ebendort, in Grßbritannien, seit einem Jahr arbeitslos – ein Beispiel für die oft tragische Tatsache, dass Werke zumeist nicht aus eigener Kraft reüssieren, sondern auch schlicht Glück haben müssen.

Rauschende Upperclass-Party in einer Villa.

Tinker im Gespräch mit Ella in deren Wohnung.

In der britischen Kinochronologie siedelt „The System“ zwischen der proletarisch angehauchten British New Wave und den Postadoleszenzdramen und -komödien im Geiste der Swinging Sixties, irgendwo also zwischen Saturday Night and Sunday Morning“ (1960) und Alfie“ (1966). Tatsächlich versammeln sich in „The System“ sogar zahlreiche Sujets einiger Filme dieser Zeitspanne: Als Ella sich von der Bar am Bühnenrand zum wer weiß wie vielten Male die lahmen Gags ihres Ehegatten Stan anhört, dann erinnert das an die erfolglosen Performances von Archie Rice in der schon damals altmodischen Music hall in Morecambe, ebenfalls einem englischen Urlaubsparadies an der Küste, als Laurence Olivier mit der geballten Kraft seiner Schauspielkunst in The Entertainer“ (1960) einen tragikomischen Abgesang auf diese Subkultur intonierte. Jane Merrows Figur hat Züge von dem selbstbewussten posh girl, das ohne Widerstand der Eltern macht, was es will, wie Angela Scoulars Sixties-Hedonistin in Here We Go Round the Mulberry Bush“ (1968) (Kurzreview auf Filmkuratorium.de lesen); und von Julie Christies Fotomodel Diana Scott in Darling“ (1965) (Review auf Filmkuratorium.de lesen), das sich mit ihren wechselnden Beziehungen durch Europa hangelt. Die oberflächliche Sex-Obsession der System-Mitglieder durchströmt auch The Knack … and How to Get It“ (1965), die ziellose Promiskuität „Alfie“ (1966) und Take a Girl Like You“ (1970, ebenfalls mit Reed); und die Coming-of-Age-Entscheidung zwischen Weggang und Verbleib, das Risiko eines Bruchs mit dem Gewohnten, bildet den Kern von Billy Liar“ (1963), in dem ein kleiner Angestellter (Tom Courtenay) sich in größenwahnsinnigen Tagträumen verliert und am Ende vor der Wahl steht, in Richtung London mit seiner vagen Metropolenverheißung auf ein aufregenderes, besseres Leben aufzubrechen.

Suzy tanzt fröhlich mit zwei Männern in einer Bar.

Die Szene, die vielleicht am stärksten die unbeschwerte Ziellosigkeit, hinter der sich in Wirklichkeit doch bloß eine aufgeschobene Suche nach Stabilität und Orientierung verbirgt, tänzelt Suzy am hellichten Tag im Hintergrund einer Bar mit flüchtigen Männerbekanntschaften: „Where’s it all going on tonight?“, fragt sie. „It’s all going on somewhere, darling. All you’ve got to do is find it“, antwortet Tinker.

Die Locations von „The System“ damals und heute.

Text verfasst von: Robert Lorenz