Wyatt Earp und die Schießerei am „O.K. Corral“ 1881 im Film

Kurzbeschreibung: Von unkritischer Glorifizierung bis zum kinematografischen Ikonoklasmus New Hollywoods: Wie sich die Westernlegende Wyatt Earp im Verlauf der Kinojahrzehnte immer wieder wandelte und die historische Schießerei am „O.K. Corral“ im Herbst 1881 die Fantasie der Filmemacher beflügelte.

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Binnen dreißig Sekunden sterben drei Männer im Kugelhagel von rund dreißig Schüssen. Dieser archaische Wild-West-Schlagabtausch ist die Grundlage für einen millionenschweren Mythos, den insbesondere Hollywood kommerziell ausbeutete und immer wieder, im Kontext der jeweiligen Zeit, variierte. Und er war ja auch letztlich wie gemacht für die Leinwand.

Die Geschichte vom Clinch zwischen den Clanton- und den Earp-Brüdern in Tombstone (dt.: Grabstein), die Verwicklung von Doc Holliday – des tödlichsten Zahnarztes im Wilden Westen – und das mörderische Shootout am „O.K. Corral“ am 26. Oktober 1881 sind inzwischen fester Bestandteil der US-amerikanischen Western-Folklore, bilden mithin eine der faszinierendsten Episoden des Alten Westens und sind nicht zuletzt deshalb vielfach verfilmt und vermarktet worden. Aber fast kein Film um Wyatt Earp, einem Inbegriff für Law and Order, gleicht dem anderen. Und verantwortlich dafür war vor allem einer: Wyatt Earp selbst.

Das Erinnerungsmanagement des Wyatt Earp

Zu behaupten, Amerika habe nach dem Vorfall am „O.K. Corral“ den Atem angehalten, wäre wohl übertrieben. Aber die Schießerei in Tombstone – einer im letzten Fünftel des 19. Jahrhunderts boomenden Stadt im Arizona Territory, umgeben von lukrativen Silberadern – zirkulierte in den US-amerikanischen Massenmedien. Als Wyatt Earp, Jahrgang 1848, im Januar 1929 im Alter von beinahe 81 Jahren in Los Angeles verstarb, war sie aus dem Bewusstsein der US-amerikanischen Öffentlichkeit freilich längst wieder verschwunden. Ein Joint Venture, dem Zufall entsprungen, hatte jedoch eine Basis geschaffen, dies bald schon zu ändern: Als sich Stuart N. Lake, der sich seinen Lebensunterhalt als Autor von Western-Geschichten verdiente, Mitte der 1920er Jahre an den gealterten Wyatt Earp – einen ehemaligen Büffeljäger, Rausschmeißer, Glücksspieler, Bordellbesitzer, Polizisten und Ringrichter – wandte, rannte der Schriftsteller bei dem alten Mann offene Türen ein. Denn Earp war an seinem Lebensabend – wie viele (wirkliche) Granden der Geschichte – zu dem Schluss gekommen, die historische Wahrnehmung seiner Person durch persönliche Lebenserinnerungen einfach selbst zu prägen. Mit seinen Memoiren, so Earps mutmaßliches Ansinnen, würde Earp noch zu Lebzeiten das Earp’sche Andenken kontrollieren können.

Schwarz-Weiß-Aufnahme mit Blick auf die vorwiegned aus einfachen Holzgebäuden bestehende Stadt von einer Anhöhe aus.

Zwei Jahre lang erzählte Earp dem aufmerksamen Zuhörer Lake seine Version der Ereignisse, in die er verstrickt gewesen war: Wie er Doc Holliday traf, in Tombstone für Ordnung sorgte, sich in einer Gerichtsverhandlung gegen lauter infame Vorwürfe wehrte und als Preis für die Herstellung von Recht und Ordnung seinen ermordeten Bruder Morgan betrauerte. Zwar verstarb Earp Anfang 1929, noch vor der Veröffentlichung seiner Biografie; aber er brauchte sich nicht im Grabe umzudrehen. Denn Lake schrieb sein Buch ganz im Sinne Wyatt Earps zu Ende. Heraus kam eine erstaunliche Glorifizierung, die einen unsteten Glücksjäger, der im wirklichen Leben wie ein Wild-West-Nomade von einer Stadt zur nächsten, vom Pokertisch zum Goldrausch gezogen war – immer auf der Suche nach Geld und Macht –, mit einem Mal zum ehrenhaften Garanten von Recht und Gerechtigkeit stilisierte. Lakes Buch war eine verkappte Autobiografie Earps, ein hagiografisches Werk, das auf lange Zeit die öffentliche Wahrnehmung Wyatt Earps als Held und Vorbild prägte.

Wyatt Earp: Frontier Marshal“ kam 1931 in die Ladenregale – und wurde zum Bestseller. Vermutlich, weil die simple Heldengeschichte vom aufrechten Mann des Gesetzes hervorragend die Sehnsüchte der US-amerikanischen Gesellschaft bediente, die am Ende der Prohibitionszeit (1920–33) nach einer ganzen Dekade brutaler Bandenkriege und korrupter Institutionen regelrecht traumatisiert war. „Whatever else may be said of Wyatt Earp, against or for him, and no matter what his motives“, schrieb Lake voller Bewunderung in seinem Buch, „the greatest gunfighter that the Old West knew cleaned up Tombstone, the toughest camp in the world.“[1] Das war damals, zu Beginn der 1930er Jahre, eine geeignete Gegenfigur zu Al Capone, der lange Zeit als Gangsterfürst Chicago tyrannisiert hatte. Im selben Buch proklamierte Earp selbst aber auch: „I am not ashamed of anything I ever did“[2]; und: „For my handling of the situation at Tombstone, I have no regrets.“[3] Wer so etwas sagt, hat meist etwas zu verbergen oder sieht sich heftiger Kritik ausgesetzt. Und fortan war Earps „handling of the situation at Tombstone“ Spielball der künstlerischen Freiheit etlicher Regisseure und Drehbuchautoren.

Naufnahme von Earp und Holliday während der Fahrt in einer Kutsche.

Wyatt Earp: Marshal im Dienste Hollywoods

Lakes Buch stieß später auf herbe Kritik; es sei zum Großteil pure Fiktion. Und in der Tat: Allein der Titel – „Frontier Marshal“ – war schon eine halbe Lüge, da Earp es tatsächlich bloß zum Deputy Marshal, also bloß dem Zuarbeiter eines Marshals, gebracht hatte. Auch Lake, der in seinem Vorwort noch den Anspruch einer „utmost accuracy of fact“[4] verkündet hatte, räumte später ein, Earp nicht exakt wiedergegeben zu haben. Ferner wurde bekannt, dass Earp und vor allem dessen spätere Witwe den Autor juristisch unter Druck gesetzt hatten, bloß kein negatives Bild von dem vorgeblichen Gesetzeshüter zu zeichnen. Überhaupt durfte Earps Frau gar nicht vorkommen, da sie im Verdacht stand, früher als Prostituierte gearbeitet zu haben. Wyatt Earp verheiratet mit einer Dirne? Nichts durfte die Reputation des Westernhelden gefährden. Und an dieser Mythenbildung hatte von da ab auch Hollywood beträchtlichen Anteil.

Die Strategen der Traumfabrik ließen sich jedenfalls nicht lange bitten, Lakes Bestseller auf die Leinwand zu bringen. Das erste Mal geschah dies 1934 mit „Frontier Marshal“, also bloß drei Jahre nach Erscheinen des gleichnamigen Buches. Aufgrund von Rechtsstreitigkeiten hieß der Protagonist da allerdings noch Michael Wyatt (gespielt von George O’Brien) – aber natürlich wusste jeder, wer damit gemeint war. Im Remake gleichen Namens aus dem Jahr 1939 durfte der Film-Earp (diesmal gespielt von Randolph Scott) dann auch endlich seinen richtigen Namen tragen; 1946 folgte John FordsMy Darling Clementine mit Henry Fonda als Earp (erstmals historisch korrekt mit Oberlippenbart); und 1957 inszenierte John Sturges mit Gunfight at the O.K. Corral“ (und Burt Lancaster in der Hauptrolle als Wyatt Earp) einen der einträglichsten Western der 1950er Jahre, der allein durch seinen Titel und schließlich den Showdown das Gefecht im kollektiven Gedächtnis der USA als nationalen Erinnerungsort etablierte – hinter der Bezeichnung „O.K. Corral“ verbirgt sich im Übrigen nichts anderes als eine vermietete Pferdekoppel (engl. corral).

Doc Holliday und Wyatt Earp schweigsam an einer Bar.

Aus der Reihe fällt indes James Stewart, der in John Fords „Cheyenne Autumn (1964) im Rahmen einer kurzen, slapstickhaften Episode ebenfalls Wyatt Earp spielte: Am Pokertisch in Dodge City interessiert sich der Gesetzeshüter zwar nicht für die anrückenden Indianerrebellen, bemerkt aber das Fehlen selbst einer einzigen Karte im Stapel; in seiner letzten Filmszene starrt Earp einer kopfüber in die Kutsche gehievten Frau auf die Unterwäsche und bekundet gegenüber seinem Kumpel Doc Holliday (Arthur Kennedy), die Dame wohl aus Wichita zu kennen.

Nahaufnahme von Wyatt Earp und Doc Holliday am Pokertisch in einem Saloon; Earp raucht eine Zigarre und hält sich mit konzentriertem Gesicht einen Stapel Spielkarten an sein rechtes Ohr; Holliday raucht Pfeife und beobachtet Earp; vor ihnen sind ihre Pokereinsätze aufgetürmt.

Die zahreichen Earp-Variationen korrespondierten stets mit der Zeit, in der sie gedreht wurden. Waren die Darstellungen in den 1930er, 40er und 50er Jahren ganz im happyendenden Sinne eines heroischen Westernidols, womit sie einem klassischen, kurzweiligen Unterhaltungsbedürfnis entsprachen, so verdüsterte sich in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren unter der pessimistischeren Linse eines (Prä-)New-Hollywood-Kinos und den politischen Traumata von Vietnam und der Nixon-Ära der Blick auf Earp und seinen Triumph über die Clanton-Bande. Das Earp-Revival, das in den 1990er Jahren mit Tombstone“ (1993) und Wyatt Earp“ (1994) – mit Kurt Russell und Kevin Costner in den jeweiligen Hauptrollen – im zeitgemäßen Blockbuster-Format folgte, entsprang dann abermals dem schablonenhaften Ansinnen eines kassenträchtigen Kinospektakels.

All diese Filme orientieren sich mehr oder weniger eng an Lakes tendenziöser Earp-Biografie: die Earp-Fraktion (die Brüder – und allesamt Polizisten – Wyatt, Virgil und Morgan gemeinsam mit ihrem Verbündeten John „Doc“ Holliday, einem tuberkulosekranken Ex-Zahnarzt und Pokerspieler) auf der einen, die Clanton-Gang (Ike und Billy Clanton, die beiden McLaury-Brüder und Billy Claiborne) auf der anderen Seite. Billy Clanton und die McLaurys überlebten die Konfrontation nicht und wurden kurz darauf im Schaufenster des örtlichen Bestattungsinstituts ausgestellt: „Murdered in the Streets of Tombstone“, wie ein Schild erklärte. Allein diese strukturelle Konstellation wechselt in den Filmen immer wieder – unterschiedliche Beteiligte, unterschiedliche Tote (zum Beispiel mal Billy Clanton, mal Billy Claiborne). Aber stets werden die Earps, die als Town bzw. Deputy Marshals im Dienste des Staats im turbulenten Arizona Territory für Ordnung sorgen sollen, von Ike Clanton und seinen Leuten provoziert. Clanton war einer der Köpfe der „Cochise County Cowboys“, einer Gruppe von Outlaws, die Postkutschen ausraubten und Vieh stahlen – notorische Kriminelle also.

Bis zum heutigen Tag ist selbst unter eingefleischten Tombstone-Historikern strittig, wie es am „O.K. Corral“ wirklich um Recht und Gesetz gestanden hat. Niemand bezweifelt, dass die „Cowboys“ ein Haufen Schurken waren, darunter Diebe und Mörder. Aber ob die Earps und Holliday sich bei dem Schusswechsel am 26. Oktober 1881 tatsächlich nur verteidigten, also ob die Clantons und McLaurys wirklich zuerst ihre Waffen zückten, ist mindestens zweifelhaft. Einer anderen Interpretation – und damit Version der Wirklichkeit – nach hatte es Wyatt Earp auf den Gunfight angelegt, um Ike Clanton und seine Komplizen in einer einzigen gezielten Aktion auszulöschen. So habe er sich als durchsetzungsstarker Gesetzeshüter für die im County anstehende Sheriff-Wahl profilieren können; und er habe die Interessen der einflussreichen Geschäftsleute von Tombstone – zu denen er nicht zuletzt selbst gehörte – verteidigt, die sich schon seit Längerem am unberechenbaren, geschäftsschädigenden Treiben der „Cowboys“ störten.

Hollywoods Wyatt-Earp-Variationen

Interessant ist, dass sich diese unterschiedlichen Sichtweisen auch in den Hollywood-Adaptionen niederschlugen. Bis in die 1960er Jahre waren beide Seiten sehr linear als good oder bad guys gezeigt worden. Earp und Holliday bildeten ein kongeniales Duo (vielleicht am stärksten, bis zur unausgesprochenen Männerliebe, verkörpert von Burt Lancaster und Kirk Douglas in Gunfight at the O.K. Corral), das dem ruchlosen Clanton und seinen Schergen endlich Einhalt gebietet (dabei war Virgil Earp der City Marshal und Wortführer am „O.K. Corral“, sein um fünf Jahre jüngerer Bruder Wyatt hingegen bloß Deputy Marshal). Im 1939er „Frontier Marshal nahm es Randolph Scotts Earp-Version noch ganz allein mit einem halben Dutzend Banditen auf – der Film hielt es mit der historischen Realität ohnehin nicht so streng; Studiochef Darryl F. Zanuck wollte im Wesentlichen lediglich für den Protagonisten einen prominenten Namen nutzen. In der etwas mehr als zweiminütigen Gut-gegen-Böse-Konfrontation bietet Earp seinen Feinden eine friedliche Lösung an. Deren Anführer, Curley Bill (Joe Sawyer), brüllt indes im übermütigen Revolverselbstbewusstsein, Earp solle ihn doch holen kommen, wenn er ihn haben wolle. Und selbst noch danach ist Earp bemüht, den offensichtlichen Ganoven lebend gefangen zu nehmen, schießt ihm nach einer raffinierten Täuschung bloß die Waffe aus den Händen, wo er ihn doch mit Leichtigkeit – und innerhalb der Westernmoral auch völlig legitim – hätte erledigen können. Die übrigen Banditen sterben im schnellen Schusswechsel mit Earp als hinterlistige Provokanten, da sie ihn mit einem Messer bewerfen und die ersten Schüsse abgeben. Curley versucht zu fliehen und wird von der Vaudeville-Sängerin Jerry (Binnie Barnes) erschossen.

Auch ein paar Jahre später, in John FordsMy Darling Clementine“ (1946), der beinahe abermals „Frontier Marshal“ geheißen hätte, ist Earp eine regelrechte Inkarnation von resolutem Anstand und sind die Rollen eindeutig verteilt – verstärkt freilich durch die genuin tugendhafte Ausstrahlung eines Henry Fonda, der zuvor bereits in kurzer Abfolge in Young Mr. Lincoln“ (1939) den späteren US-Präsidenten und in The Grapes of Wrath“ (1940) den Great Depression-Antihelden Tom Joad gespielt hatte. Earp tritt gerade aus dem Saloon heraus, da erreichen ihn auch schon die ersten Kugeln der in die Stadt preschenden Clanton-Bande. „We’ll be waitin’ for you, Marshal, at the O.K. Corral“, rufen sie ihm zu und werfen ihm, wie als offizielle Kriegserklärung, die Leiche seines ermordeten Bruders Virgil vor die Füße. Die vierköpfe Clanton-Bande verschanzt sich daraufhin in der berühmtesten Pferdekoppel der Geschichte, im Hintergrund thront der massive, in der Ford’schen Western-Kinematografie so ikonisch gewordene Fels des Monument Valley. Die Absicht der Clantons, Earp so schnell wie möglich abzuknallen, statt noch irgendetwas auszuhandeln, ist deutlich erkennbar, als der alte Clanton (Walter Brennan) seine jüngeren Kompagnons ermahnen muss, erst zu feuern, wenn Earp näher gekommen ist. Die Clantons geben dann auch den ersten Schuss ab; Earp fordert sie auf, sich für die Morde an James und Virgil Earp sowie wegen Viehdiebstahls den Behörden zu stellen. Heißspornig feuert Ike Clanton (Grant Withers) auf Earp, womit er eine im Western idealtypische Notwehrsituation herstellt, in welcher der Beschossene – also Earp – gar nicht anders kann, als seinen Kontrahenten zu töten. Es folgt eine einminütige Schießerei, an deren Ende alle drei Clanton-Söhne tot im Staub liegen. Ihr Vater kapituliert und Earp, statt ihn festzunehmen, will ihn laufen lassen, um ihn mit dem Leid eines Mannes, der all seine Söhne verloren hat, zu bestrafen. Aber Clanton ist so durchtrieben, dass er am Ausgang der Koppel stoppt, sich mit gezogenem Revolver umdreht – doch ehe Clanton auf Wyatt schießen kann, streckt ihn Morgan Earp (Ward Bond) mit einer schnellen Salve nieder. Bei diesem Kinobesuch nahmen die Zuschauer die Earps als wehrhafte Opfer der Clanton-Gewalt mit nach Hause.

Wyatt Earp schreitet allein auf die Kamera zu, im Hintergrund mit spektakulärem Himmel befinden sich die flachen Gebäude einer Kleinstadt, Planwagen und Felsen des Monument Valley

Nachdem John Sturges 1957 mit „Gunfight at the O.K. Corral“ scheinbar endgültig den Earp-Mythos in Gestalt von Burt Lancaster mit der Aura des unbestechlichen Gesetzeshüters zementiert hatte, war es ausgerechnet Sturges selbst, der exakt zehn Jahre später mit Hour of the Gun“ (1967) erste Zweifel an Earps Heldenstatus in die Kinosäle trug. Bereits der Trailer fragte: „Wyatt Earp: Hero with a badge or coldblooded killer?“ Obwohl James Garners Wyatt Earp nicht Amok lief und ihm die „Cowboys“ im Film immer wieder gute Gründe für den Griff zum Revolver lieferten, ging Sturges’ zweiter Anlauf doch stark in die Richtung des kaltblütigen Killers, der sogar zum Leidwesen seines abgebrühten, hier aber bisweilen entsetzten Kompagnons Holliday (gespielt von Jason Robards) eine unerbittliche Wüstenvendetta bis nach Mexiko führt, um in gnadenloser Selbstjustiz seinen ermordeten Bruder Morgan zu rächen.

Nahaufnahme von Doc Holliday und Wyatt Earp im Schutz eines Wagenrades während der Schießerei am „O.K. Corral“.

Die radikalste Earp-Kritik formulierte indes nochmals einige Jahre später im Furor seines kinematografischen Ikonoklasmus das New Hollywood-Kino. ‚Doc‘“ aus dem Jahr 1971 taucht seine Figuren in reichlich Zwielicht. Was in „Gunfight at the O.K. Corral“ noch ein halbwegs gleichrangiges Feuergefecht gewesen war, kommt in „‚Doc‘“ als arglistige Hinrichtung daher: Während Ike Clanton im Angesicht der dickläufigen Shotguns der Earps verängstigt herumdruckst und vorgibt, bloß reden zu wollen, eröffnet Wyatt Earp (Harris Yulin) kurzerhand das Feuer, woraufhin Clanton und dessen Kumpane von den lawmen quasi exekutiert werden. Der Macho-Halunke Clanton ist dadurch mehr Opfer als Täter. Ein „The Kid“ genannter Youngster (eine Figur, hinter der sich vermutlich Billy Claiborne verbirgt) kann aus Ehrfurcht nicht auf seinen Helden Doc Holliday (Stacy Keach) schießen und steckt seinen Revolver wieder in sein Holster; Holliday, der bereits seine Waffe auf den jungen Mann gerichtet hat, schießt seinem vormaligen Protegé mitten ins Herz. Dem geradlinigen Gesetzeshüter Earp aus den klassischen Verfilmungen, der eine tatkräftige Gemeinschaft ehrbarer Bürger vor den Machenschaften übler Schufte bewahrt, stellt „‚Doc‘“ den egoistischen Geschäftsmann gegenüber, der mit gerissener Miene seinen Kumpanen Holliday – ein Pokerass – in die Stadt beordert, um die Profiteure der örtlichen Silberminen am Kartentisch auszunehmen. So ist Hollywood: Zuerst verdiente man kräftig an der Mythenbildung, dann an deren Dekonstruktion.

Nahaufnahme von teilweise blutverschmierten Leichen der Clanton-Bande im Dreck.

Knapp zwanzig Jahre später vollzog Tombstone“ (1993) zugunsten des Unterhaltungskinos der Neunziger abermals eine Kehrtwende und zeigte, wie sehr trotz sporadischer Alternativinterpretationen à la „‚Doc‘“ die „O.K. Corral“-Erzählung im Hollywoodkino eine eindimensionale Form angenommen hatte: Hier stehen sich die beiden Parteien – die Earps mit Holliday auf der einen und die Clanton-Gang auf der anderen Seite – erst vierzig lange Sekunden gegenüber, ehe Thomas Haden Church als Billy Clanton zu seinem Revolver greift und damit die anschließende Erschießung seiner selbst wie auch seiner Komplizen durch die Earp-Holliday-Fraktion zu einem zweifelsfreien Akt der Selbstverteidigung macht. Wyatt Earp“ aus dem Jahr 1994 hielt es ebenfalls wie „Tombstone“: Nach vierzig Sekunden der angespannten Konfrontation, keine zwei Meter voneinander entfernt, greift diesmal Johnny Ringo zur Waffe und erlaubt dadurch auch hier, den Tod der „Cowboys“ durch die Kugeln der Earps und Hollidays als reine Selbstverteidigung auszulegen.

Nahaufnahme der Earp-Fraktion bei der Ankunft am „O.K. Corral“ in alerter Bewegung.
Zwischen zwei Gebäuden stehen sich die Earps und die Clantons in zwei Reihen dicht gegenüber.

Das vielleicht härteste Porträt der Earps und Holliday im Zusammenhang mit der Schießerei am „O.K. Corral“, obendrein noch einige Jahre vor der New-Hollywood’schen Dekonstruktion „‚Doc‘“ entstanden, stammt jedoch aus einer TV-Serie. Das Sci-Fi-Abenteuer „Star Trek griff den Tombstone-Vorfall 1968 in der Episode „Spectre of the Gun auf. Captain Kirk und Konsorten werden darin von den Melkotianern in ein Szenario gesteckt, in dem – ohne das Wissen der „Enterprise“-Crew – ihre Friedfertigkeit einem Test unterzogen wird. Unversehens finden sich Kirk, Spock, Scotty, Chekov und McCoy (dessen Darsteller DeForest Kelley knapp zehn Jahre zuvor in „Gunfight at the O.K. Corral“ einen der Earp-Brüder gespielt hatte) in den Körpern der Clanton- und McLaury-Brüder sowie Billy Claibornes wieder. Obwohl sie unablässig ihr Interesse an einer friedlichen Lösung des Konflikts bekunden und auf Deeskalation setzen, legen die Earps für 17 Uhr ein Duell fest. Erst erschießen sie kaltblütig auf offener Straße Claiborne; dann verkündet Wyatt Earp (Ron Soble) mit finsterer Miene: „If you’re in town at 5:01 [p.m.], we’ll kill every one of you whether you draw or not.“

Chekov, Scotty, Spock, McCoy und Kirk von der „Enterprise“-Crew in ihren bunten Uniformen am Eingang eines Westernsaloons, im Hintergrund zwei Cowboys mit charakteristischen Hüten.

Neben der Handlung und dem Subtext variierten in den Filmen auch Ablauf und Dauer des Gefechts nach Lust und Laune der Regisseure: So scherte sich Sturges 1957 offenbar wenig um die (auch dort bereits umstrittenen) Angaben in Lakes „Frontier Marshal – laut Earp habe das Gefecht etwa eine halbe Minute gedauert –, sondern inszenierte einen epischen, mehr als sieben Minuten andauernden Stellungskampf zwischen der Clanton-Gang und der Earp-Delegation. In seinem zweiten Versuch ließ Sturges den Schlagabtausch dann binnen 15 Sekunden enden, so wie es in Lakes „Frontier Marshal in Anlehnung an Zeugenaussagen geschrieben stand. Auch „‚Doc‘“ versucht sich an historischer Akkuratesse und beschränkt die Schießerei auf die von Earp ebenfalls bei Lake behaupteten dreißig Sekunden. George P. Cosmatos, der Regisseur von „Tombstone“ aus dem Jahr 1993, wählte dann so etwas wie die goldene Mitte und ließ den Shootout anderthalb Minuten dauern. Auch „Star Wars“-Drehbuchautor Lawrence Kasdan, dessen „Wyatt Earp“ 1994, also kurz nach „Tombstone“, herauskam, ließ die Earps und Holliday sich anderthalb Minuten mit den „Cowboys“ beschießen, ehe diese bis auf Ike Clanton allesamt tot sind.

Wyatt Earp mit Gewehr im Anschlag unterwegs zum O.K. Corral in finsterem Licht.

Nahaufnahme der Earp-Fraktion mit entschlossenen Gesichtern beim Marsch durch Tombstone.

Die Earps mit Doc Holliday, im Hintergrund die Gebäude einer Westernkleinstadt; Holliday hält eine Shotgun im Anschlag.

Frontalaufnahme der im fliegenden Herbstlaub anmarschierenden Earp-Fraktion in düsterer Atmosphäre.

Nahaufnahme der Earp-Fraktion mit finsteren Gesichtern, allesamt bewaffnet mit Shotguns.

Blick auf vier schwarz gekleidete Männer mitten auf der staubigen Hauptstraße einer Westernkleinstadt.

Nahaufnahme der Earp-Fraktion mit ernsten Gesichtern vor infernalischem Hintergrund.

Nahaufnahme der Earp-Fraktion vor Häusern einer Westernkleinstadt.

Die Filme waren überdies immer auch Spiegel ihrer Zeit. Aus den ersten beiden „Frontier Marshal“-Filmen von 1934 und 1939 sprach die karge Nüchternheit der Great Depression; „Gunfight at the O.K. Corral“ hatte dagegen einen technicolorisierten Look, der dem adretten Komfort der Fünfzigerjahre-Massenkonsumkultur entsprach; „‚Doc‘“ wiederum suhlte sich ganz im Geiste von New Hollywood im Dreck und Staub, reflektierte in seinem zynischen Subtext von der korrupten Staatsautorität des gierigen Marshals das Misstrauen, das zu Beginn der 1970er Jahre gegenüber der Nixon-Administration herrschte, und den desillusionierten Pessimisus, den der Vietnamkrieg verströmte; „Tombstone“ und „Wyatt Earp“ schließlich waren Ausbünde des unbeschwerten Blockbuster-Kinos der Neunziger.

Der Mythos des Wyatt Earp und des Shootout am „O.K. Corral“, dem Pferdepferch in Arizona, spült seit den 1930er Jahren verlässlich Millionen Dollar in die Kassen von Hollywood. Und wie so oft bei Mythen überdeckt der Mythos die realen Ereignisse unter der Oberfläche einer Fiktion, die sich aus verzerrtem und unvollständigem Wissen speist. An der Mythenbildung des Wyatt Earp, die bereits in dessen Vorteil des Überlebenden der Schießerei ihr Fundament hatte, wirkte Hollywood jedenfalls jahrzehntelang kräftig mit – ganz nach dem Motto „Give or take a lie or two“, mit dem James Garners zweiter Wyatt Earp in Sunset“ (1988) seine Anekdoten versieht, die er in den Zwanzigern als technischer Berater am Set eines Hollywoodwestern kredenzt – „part fact and just enough fiction to sell newspapers“.

Sechs Mitglieder der Clanton-Gang in überrascht-alerter Haltung am „O.K. Corral“.

Die Darstellung der Geschichte des Schusswechsels am „O.K. Corral“ mit den Motiven der Beteiligten, dem Beginn und Ablauf, der Dauer und dem Resultat des Gefechts variierten jedenfalls. In einer Mischung aus künstlerischer Freiheit, fluidem historischen Wissen und den mutmaßlichen Ansprüchen des Publikums offenbart sich an der Wyatt-EarpLegende die Interpretationsmacht des Kinos.

Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe (2021) des CrimeMag.

Die zahlreichen Filmgesichter des Wyatt Earp

Redlicher Recke, hartgesottener Law-and-Order-Bewahrer oder gerissener Geschäftsmann, der über Leichen geht: In der langen Historie der Wyatt-Earp-Darstellungen gibt es ein ebenso breites Spektrum an Charakteren, die – oftmals je nach Kinoepoche – unterschiedliche Facetten des realen Earp überspitzen (inklusive besonders dicker oder komplett fehlender Schnauzbärte).

Schwarz-Weiß-Aufnahme von Wyatts Earp Gesicht; ernster Blick, auffälliger Schnauzbart, er trägt einen Hut.

Close-up von Wyatt Earp mit gütigem Blick im Gespräch mit einer Frau.

Nahaufnahme von einem vollbärtigen Wyatt Earp zu Pferd.

Nahaufnahme von Burt Lancaster als Wyatt Earp mit routiniertem Gesichtsausdruck vor klassischem Westernhintergrund.

Nahaufnahme von Wyatt Earp mit Schnauzbart und festem Blick vor einem Eisenbahnwaggon, neben ihm Doc Holliday.

Die Earp-Brüder und Doc Holliday nebeneinander in Duell-Haltung.

Nahaufnahme Wyatt Earp mit Schnauzbart und konsterniertem Blick.

Nahaufnahme von Wyatt Earp mit Schnauzbart, Hut und grimmiger Miene, wie er mit seinem Revoplver zielt.

Nahaufnahme von Wyatts Earp Gesicht mit dickem Schnauzbart und bekümmertem Blick.

Nahaufnahme von Wyatt Earp mit Schnauzbart in lakonischer Pose.

Variationen einer Pferdekoppel: der „O.K. Corral“ im Film

Nicht nur Earp und der Showdown, auch das Gatter, an dem im Herbst 1881 die Projektile durch die bleihaltige Luft zischten und einen Haufen Leichen hinterließen, wurde im Laufe der Zeit immer wieder unterschiedlich dargestellt – schon allein die Aufschrift ist so gut wie nie die gleiche.

Randolph Scott als Earp mit Gewehr im Anschlag am O.K. Corral in düsterer Atmosphäre.

Blick von hinten auf drei Angehörige der Clanton-Bande, die in düsterer Atmosphäre am Gatter des „O.K. Corral“ warten.

Mitglieder der Clanton-Gang in alerter Haltung neben einem Planwagen am OK Corral.

Leicht desolate Pferdekoppel aus Holzbalken und Mauern mit einem Schild, das die lakonische Aufschrift „OK“ trägt.

Vier Mitglieder der „Enterprise“-Crew mit dem Rücken zur Kamera; im Hintergrund die Earps mit Doc Holliday unter einem Schild, auf dem „O K Corral“ geschrieben steht.

Die Earp-Fraktion marschiert auf die Pferdekoppel zu, in der in einer Reihe mehrere Männer warten; über dem Eingang hängt ein kleines Schild mit der Auschrift „O K“.

Mehrere Männer vor einer Pferdescheune; über dem Eingang sind zwei Holzbuchstaben angebracht: „OK“.

Schwarz-Weiß-Aufnahme des originalen „O.K. Corral“ als Ruine mit eingestürzter Scheune und verbrannter Mauer. Lediglich das Schild mit der Aufschrift „O.K. Corral“ ist intakt.

Fußnoten

[1] Lake, Stuart N.: Wyatt Earp: Frontier Marshal, New York u.a. 1994 [1931], S. 362.

[2] Wyatt Earp zitiert nach ebd., S. 377.

[3] Wyatt Earp zitiert nach ebd.

[4] Ebd., S. VIII.

Text verfasst von: Robert Lorenz